Neubau Hardinge Kellenberger AG

«Eine komplett andere Disziplin»

«Eine komplett andere Disziplin»
Carlos Martinez
Lesezeit: 6 Minuten

Geplant wurde der 65-Millionen-Franken-Neubau vom Architekturbüro Carlos Martinez mit Sitz in Berneck und St.Gallen. Im Interview spricht CEO Carlos Martinez über die Komplexität des Projekts, die wirtschaftliche Bedeutung für Goldach und was der Neubau mit «New Work» zu tun hat.

Carlos Martinez, der neue Standort ist für die Geschichte der Hardinge Kellenberger AG ein historischer Schritt. Was bedeutet es Ihnen, dieses Projekt mit Ihrem Team realisieren zu dürfen?
Auch für uns stellt die Umsetzung des neuen Hauptsitzes einen Meilenstein auf der 30-jährigen Zeitachse der Carlos Martinez Architekten dar. Wir lieben komplexe Aufgaben, die uns sowohl aus funktionaler als auch ästhetischer Sicht beanspruchen. Insbesondere die erforderliche Temperaturstabilität in den Produktionshallen gestaltete sich als Herausforderung. Bereits in der Entwurfsphase haben wir aber diese produktionstechnische Anforderung eingeplant. 

Was, denken Sie, war ausschlaggebend, dass Ihr Entwurf des Neubaus die Jury überzeugen konnte?
Schon in der Studienphase haben wir uns in Zusammenarbeit mit Mettler2Invest intensiv mit dem Vorhaben auseinandergesetzt, um entscheidende Fragen der Auftraggeber zu beantworten. Kompetenzen, die wir aus früheren Realisationen von Industriebauten – wie etwa die Schützenwiese in Kriessern (SwissQPrint, MenziMuck) – erworben haben, konnten wir gezielt einsetzen, um überzeugende Ideen mit konkreten Lösungsansätzen aufzuzeigen. Unsere Prämisse legte fest, die hohen Ansprüche an die Gebäudefunktionalität mit präsentem Design zu kombinieren.

Wie haben Sie die spezifischen Bedürfnisse von Kellenberger bei der Planung des neuen Gebäudes berücksichtigt?
Aus Erfahrung bei solchen Projekten ist eine sorgfältige Planung der Abläufe entscheidend. So müssen die Wege der Mitarbeitenden kurz sein und die Arbeitsabläufe reibungslos funktionieren. Hier sollten die Arbeitsbereiche sowie die Lager- und Werkzeugbereiche so nahe wie möglich beieinander liegen. Diese Faktoren sind von grosser Bedeutung für den Bau von Industriebauten, aber auch von Spitälern und Hotels. So optimiert der Betrieb Kosten und Zeitmanagement.

 

  

«Wir haben sichergestellt, dass die Vibrationen der Maschinen nicht in den Büros spürbar sind.»

Können Sie ein Beispiel machen?
Wir haben sichergestellt, dass die Vibrationen der Maschinen nicht in den Büros spürbar sind. Dazu haben wir die Bodenplatten schallentkoppelt ausgeführt und mit schweren Fundamenten ausgestattet, um einerseits die Schleifgenauigkeit der Hochpräzisionsmaschinen zu garantieren und andererseits die Bewegungsemissionen abzufedern. Technisch hat uns besonders gefordert, in der Produktions- und Montagehalle eine permanente Temperaturstabilität mit maximal einem halben Grad Kelvin Abweichung zu gewährleisten.

Wie haben Sie die verschiedenen Funktionen der Industriehalle gestaltet, um eine effiziente Nutzung zu gewährleisten?
Industriebauten als komplexe Gebilde weisen Parallelen zu Maschinen auf. Beide haben dieselbe Grundlage: die Notwendigkeit der Funktionalität. In der Architektur gestalten wir Produktionsbetriebe ähnlich wie eine Maschine. Dabei achten wir auf die Einbettung der ergonomischen Prozesse in ein präzises, räumlich definiertes Ablaufsystem. Werkhallen müssen sowohl einen reibungslosen Produktionsfluss als auch Effizienz gewährleisten. Dennoch geht es bei einer gelungenen technischen Anlage nicht nur um Wirkung und Effekt: Ähnlich wie Maschinen, die oft auch elegant gestaltet sind, sollten Industriebauten einladend und ästhetisch ansprechend sein.

Welche besonderen architektonischen Herausforderungen mussten Sie bei der Umsetzung des Projekts bewältigen?
Jede Gestaltung hat eine Aussage, denn man kann nicht «nicht kommunizieren». Dies gilt auch für diesen industriellen Neubau, wo die Dimensionen der Bauteile so markant sind, dass wir stets einen Blick auf die Kosten der einzelnen Elemente werfen mussten. Im Weiteren spielt eine ausgewogene Akustik eine entscheidende Rolle für die Qualität der Arbeitsplätze. Zudem streben wir danach, das Gebäude innen und aussen mit möglichst sparsamen Mitteln spannend zu gestalten.

 

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«Die Organisation dieses immensen Volumens ist eine komplett andere Disziplin.»

Für den Empfangsbereich des neuen Kellenberger haben Sie die «Welcome Bar» konzipiert. Was zeichnet diese aus?
Wir haben uns in den vergangenen Jahren inten-siv mit dem Thema «New Work» auseinandergesetzt. Dabei geht es um die Gestaltung innovativer Arbeitsräume und den Arbeitsplatz der Zukunft. Für den zentralen Empfangsbereich des Hauptsitzes haben wir keine gewöhnliche, monofunktionale Empfangstheke entworfen, sondern einen Ort der Begegnung und Kommunikation geschaffen – eine «Welcome Bar», an der sich Menschen treffen können. Unser Design für den Welcome Desk ist wie eine Stahlskulptur gestaltet und nimmt mehrfach Bezug auf die Tätigkeiten der Kellenberger AG.

Die Empfangstheke ist ein Unikat, das Sie speziell für Kellenberger entwickelt haben?
Ja. Sie reagiert spezifisch auf den Ort, den Raum und seine Nutzung. Ähnlich wie bei massgeschneiderten Anzügen führen wir individuelle Anpassung durch, bis das Design einzigartig auf den sinnbildlichen Körper zugeschnitten ist. Die «Welcome Bar» gehört zu Kellenberger und könnte woanders nicht besser passen.

Ausgeführt wurde er von Federer Metallbau in Berneck. Wie wichtig ist Ihnen die Zusammenarbeit mit regionalen Unternehmen?
Federer hat den Welcome Desk nach unseren Vorstellungen umgesetzt. Die Zusammenarbeit mit regionalen Unternehmen ist für uns selbstverständlich. Als Einheimischer, der mit Herz und Seele mit dem St.Galler Rheintal verbunden ist, betrachte ich unsere Region als eine der leistungsstärksten der Welt. Aus Gründen der Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung suchen wir bevorzugt Partner in der Region, insbesondere aus dem Rheintal.

 

«Die ‹Welcome Bar› gehört zu Kellenberger und könnte nirgends besser passen.»
«Die ‹Welcome Bar› gehört zu Kellenberger und könnte nirgends besser passen.»

Der Welcome Desk wiegt über zwei Tonnen und ist 10,54 m lang. Wie wurde er transportiert?
Für den Transport haben wir auf die Expertise der Emil Egger AG aus St.Gallen vertraut. Sie sind absolute Spezialisten in der Region und stehen uns bei anspruchsvollen Aufgaben stets zur Seite. Mit den richtigen Maschinen und leidenschaftlichen Fachleuten meistern sie jede Herausforderung. Mit dem Know-how dieses Teams konnten wir den langen und schweren Welcome Desk auch durch eine relativ kleine seitliche Öffnung problemlos an seinen Standort platzieren. Ich kenne die beiden Brüder Egger persönlich und ihr Enthusiasmus färbt auf ihre Mitarbeitenden ab. Es ist immer ein sehr professionelles und kollegiales Miteinander, wenn wir gemeinsam Projekte angehen. Nichts ist für sie zu schwierig. Das macht Freude!

Welche nachhaltigen Design- und Baumassnahmen wurden ergriffen, um Energieeffizienz, Ressourcenschonung und Umweltverträglichkeit im neuen Gebäude zu fördern?
Verschiedenste: Aufgrund der erforderlichen klimatischen Stabilität im Inneren war es wesentlich, die Gebäudehülle wirksam zu dämmen. Diese Massnahme bildet in Kombination mit dem Einsatz von Seewasser-Wärmepumpen zur Heizung und Kühlung des Gebäudes die Basis für die umweltbewusste Umsetzung des Neubaus. Sowohl bei der Gestaltung des Bürotrakts als auch der grossen Produktions- und Montagehalle teilten wir die Flächen nach einem strikten Entwurfsraster auf. Die grosszügigen Raumhöhen bieten durchwegs eine hohe Nutzungsflexibilität. Um die unterschiedliche Lebensdauer von Gebäude- und Haustechnikeinbauten zu berücksichtigen, haben wir auf eine konsequente Bauteiltrennung dieser Elemente geachtet.

Welche Rolle spielt das moderne Industriegebäude bei der Stärkung des Standorts Ostschweiz und der Generierung von Wertschöpfung in Goldach?
Unsere Region zeichnet sich durch eine hohe Dichte an führenden Industriebetrieben aus. Der Bau des neuen globalen Hauptsitzes spielt eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Standorts Ostschweiz. Diese konstruktive Entwicklung mit unserer Architektur zu unterstützen, erfüllt uns mit Stolz und Freude. Gleichzeitig tragen wir dazu bei, positive Impulse für die Region und die Gemeinde Goldach auszusenden.

 

 

«Industriebauten als komplexe Gebilde weisen Parallelen zu Maschinen auf.»

Wie liefen die Arbeiten?
Wir sind sehr zufrieden mit dem planmässigen Fortschritt. Für uns war es ein Kaltstart. Wir kannten die Nutzer erst kurz und hatten zuvor nur we-nig Erfahrung mit Mettler2Invest. Der vorgegebene Zeitplan ist anspruchsvoll getaktet. Bereits acht Monate nach Erteilung des Auftrags haben wir den Bauantrag für den Hochbau eingereicht; vier Monate später hatten wir die Bewilligung. Parallel zu diesen Planungsarbeiten stellten wir bereits im Frühling 2020 den Bauantrag für die Terrassierungsarbeiten. Im Sommer 2020 begannen die Vorbereitungsarbeiten mit dem Bau einer 200 Meter langen Stützmauer und intensiven Geländeveränderungen. Die Pfählungen erfolgten im April 2021, sodass wir am 23. August 2021 die Hochbauarbeiten angehen konnten. Nach einer Bauzeit von weniger als zwei Jahren bezog die Kellenberger AG am 14. Juli 2023 pünktlich ihren neuen Hauptsitz.

Was zeichnet den Bau für Sie ganz persönlich aus?
Es ist eine überschaubare Aufgabe, ein Einfamilienhaus im Detail zu planen und das Raumprogramm so aufzuteilen, dass eine konsistente Gestaltung entsteht. Die Organisation dieses immensen Volumens in Verbindung mit einem komplexen Raumprogramm von 33’000 Quadratmetern Nutzfläche, um sicherzustellen, dass alles an seinem richtigen Platz ist und die Betriebsabläufe optimiert laufen, ist jedoch eine komplett andere Disziplin. Nebst der Funktionalität eines Industriebaus, die selbstredend im Zentrum der Umsetzung steht, ist es uns ein Anliegen, dass solche Gebäude eine besondere Ausstrahlungskraft besitzen. Voluminöse Bauten auch visuell attraktiv wirken zu lassen, empfinde ich als besonders reizvoll.

Text: Miryam Koc

Bild: zVg

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