Geothermie Thurgau 2021

Die Geothermie zu Ende denken

Die Geothermie zu Ende denken
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Die ersten zehn Jahre des «Vereins Geothermie Thurgau» standen im Zeichen eines durchgreifenden Wandels der Energie-, Umwelt- und Klimapolitik. Der Blick zurück erhellt die Chancen für die Zukunft. Sie zu packen bedeutet auch, aus den Rückschlägen anderer zu lernen.

Es war nur eine Randbemerkung. «In diesen Tagen wird eine Studie zur Nutzung der tiefen Geothermie im Thurgau abgeschlossen», diktierte Andrea Paoli, Leiter der kantonalen Abteilung Energie, dem Journalisten Christof Widmer ins Notizbuch. Das war Mitte September 2009 am Rande der Internationalen Bodenseekonferenz (IBK) in der Kartause Ittingen. Die Vierländerkonferenz hatte soeben eine Studie über das ungenutzte Potenzial der erneuerbaren Energien vorgestellt und war darin zum Schluss gekommen, dass im erweiterten Bodenseeraum das «Potenzial eines halben Atomkraftwerks» brach liege.

Diesem Potenzial war Josef Gemperle schon Jahre zuvor auf die Spur gekommen. Der Milchbauer und Meisterlandwirt aus Fischingen politisiert für die CVP seit 2004 im Thurgauer Grossen Rat. Von Beginn weg hatte er sich die neuen erneuerbaren Energien auf die Fahne geschrieben und die damals eher «verschnarchte» kantonale Energiepolitik immer wieder aufgeschreckt. Am 15. Mai 2011 – also genau zwei Monate nach «Fukushima» – hievte er als Hauptinitiant die Volksinitiative «Ja zu effizienter und erneuerbarer Energie – natürlich Thurgau» fast eigenhändig in die Thurgauer Verfassung. Rund 85 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger legten ihr Ja zum neuen Energieförderprogramm samt eines festgezurrten millionenschweren Energiefonds ein.

Stets bespielte Josef Gemperle die gesamte Klaviatur. Die Tonleiter reicht dabei von der Energie- über die Umwelt- bis zur aktuellen Klimapolitik. Gemperle engagierte sich Zeit seines Wirkens als Gegner der Atomenergie und bekämpfte auch die Importe fossiler Energieträger. Mitunter gerieten seine Wortbeiträge etwas energisch, was ihm prompt das Attribut «Energiepapst» eintrug.

  

Gründung im Wechselbad der Gefühle

Als der Verein Geothermie Thurgau (VGTG) am 9. Mai 2011 in der Aula des Berufsbildungszentrums Weinfelden gegründet wurde, erlebte die Geothermie hierzulande gerade ein Wechselbad der Gefühle. Im selben Zeitraum, da die Basler Regierung einen Schlussstrich unter ihr Geothermie-Projekt zog, stimmten 83 Prozent der Stadtbevölkerung von St.Gallen einem 159-Millionen-Kredit für den Bau einer Geothermie-Anlage im Sittertobel zu. Bei Gelingen hätte die Hälfte aller Gebäude auf Stadtgebiet mit dem warmen Tiefenwasser beheizt und rund 3000 Haushaltungen mit Strom aus dem Geothermie-Kraftwerk versorgt werden können.

Solche Hoffnungen hatte man in den 2000er-Jahren auch in Basel gehegt. Auf dem Bohrplatz im Arbeiterquartier Kleinhüningen hatte das Konsortium «Geopower» 5000 Meter in die Tiefe gebohrt und das Gestein über mehrere Tage hinweg mit hohem Wasserdruck «stimuliert». Doch am 8. Dezember 2006 registrierten die Seismologen ein Erdbeben der Stärke von 3.4 auf der Richterskala. Drei Monate später folgten vier weitere Erdstösse. Die Politik duckte sich ab, die Wissenschaft gelobte Besserung, der Geschäftsführer landete vor Gericht, und die 80 Millionen Franken fürs Geothermie-Pionierprojekt wurden schicklich abgeschrieben.

Fachleute und Politiker prägen den Verein

Das focht die 21 Frauen und Männer nicht an, als sie vor zehn Jahren in Weinfelden den «Verein Geothermie Thurgau» gründeten. Die Statuten wurden nach kurzer Diskussion beschlossen, und der Vereinszweck nannte in nüchternem Juristendeutsch «die Unterstützung und Förderung von Massnahmen, welche darauf ausgerichtet sind, im Kanton Thurgau aus Geothermie Energie, insbesondere auch elektrischen Strom, zu gewinnen». Gründungspräsident Josef Gemperle war klug genug, um sich herum einen politisch und fachlich breit aufgestellten Ausschuss aufzustellen. Als Vizepräsident wirkt seit der Gründung der renommierte Geologe Roland Wyss (Frauenfeld) mit. Er betreute damals auch die Geschäftsstelle der schweizerischen Vereinigung «Geothermie.ch» und hielt das Thema national auf Kurs. Die politischen Flanken deckte der VGTG durch die Kantonsräte Toni Kappeler (Grüne), Urs Martin (SVP), André Schlatter (CVP) und später Daniel Eugster (FDP) ab. Als Energieexperten trugen Daniel Moos (Kreuzlingen), Daniel Stüssi (vormals EKT), Jörg Uhde (vormals Axpo), Ernst Uhlmann (Fela-Gruppe) und Beat Aebi (Werbeagentur) ihr Wissen und ihre Erfahrung ins Führungsgremium ebenso ein, wie die hinzugestossenen Peter Konrad (BBZ Arenenberg), Peter Meier (Geo-Energie Suisse) und Bernd Frieg (nagra). Als Mann der ersten Stunde führt seit zehn Jahren Andreas P. Koch (keest) mit viel Umsicht die VGTG-Geschäftsstelle.

Die ausgewogene Mischung an der Spitze sowie ein separat gepflegter erweiterter Vorstand mit zeitweise mehr als 30 Frauen und Männern entpuppte sich als Erfolgsmodell: Binnen weniger Jahre wuchs der Verein auf über 350 Mitglieder an. Heute gilt der VGTG als die grösste nationale Geothermie-Bewegung – und vereint in seinen Reihen Persönlichkeiten jeglicher Couleur. Die meinungsbildende Kraft der Gruppierung führte bereits Mitte 2014 zur Unterstützung durch den Kanton in Form eines Leistungsauftrags.

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Nach «Fukushima» Aufwind für Geothermie

Die Vereinsgründung vor zehn Jahren war kein Zufall: Sie fiel in eine Phase, in der das Elektrizitätswerk des Kantons Thurgau (EKT) bereits über ein eigenes Geothermie-Kraftwerk nachdachte. Spürbaren Aufwind erfuhr diese Diskussion nach der AKW-Havarie in «Fukushima» am 11. März 2011 – und der vom Bundesrat rasch aufgelegten «Energiestrategie 2050». Sie forderte klar den Atomausstieg. Erstmals sprachen sich auch im Thurgau sowohl Regierung wie Parlament für den Ausstieg aus der Kernenergie aus. Das spielte auch der Geothermie in die Karten: Energiedirektor Kaspar Schläpfer bekannte sich zum «Wandel zu einer Gesellschaft ohne Atomstrom» und betonte, dass damit der Geothermie eine besondere Bedeutung zukomme. Nur zwei Wochen später verkündete er das Ziel, bis 2022 ein erstes Geothermiekraftwerk im Thurgau ans Netz gehen zu lassen – unter begeisterter Anfeuerung des Grossen Rates.

Die Schweiz blickt auf den Thurgau

Mit so viel Rückenwind liess auch das EKT die Katze aus dem Sack: Das Kantonswerk wolle mit Beteiligung der «Axpo» bis zum Jahr 2018 das erste Thurgauer Geothermiekraftwerk bauen, kündigte der damalige CEO Markus Schüpbach an. Das 100-Millionen-Franken-Projekt solle im Oberthurgau zu stehen kommen und mit Wärme aus 3500 Metern Tiefe Strom für 2200 Haushalte sowie Fernwärme für 4000 Haushalte produzieren. Diese frohe Botschaft und das in der Stadt St.Gallen angedachte Projekt liess sogar die nüchterne «NZZ» jubeln: «Ostschweizer Dampf aus der Tiefe» titelte Jörg Krummenacher und weissagte, dass die Region zwischen Alpstein und Bodensee bald zum «Geothermie-Valley» aufsteige. Als bräuchte es noch eines weiteren Beweises, legte die von namhaften Stadtwerken getragene «Geo-Energie Suisse» im Winter 2012 mit einer positiven Meldung nach: Sie beabsichtige, beim Bahnhof Etzwilen TG zwischen 80 und 100 Mio. Franken in ein Geothermie-Kraftwerk zu investieren und wolle zur Erkundung eine Bohrung rund vier Kilometer tief in den Untergrund treiben. Freude herrschte.

  

Die Erde bebte politisch und medial

Sie kam zu früh: Am Freitagmittag, 19. Juli 2013 trat aus der Bohrstelle im St.Galler Sittertobel ein Wasser-Gas-Gemisch aus, und am frühen Morgen des nächsten Tages wurde die Bevölkerung in der Region St.Gallen «von einem jähen Rumpeln geweckt». So beschreibt der Journalist Michael Breu in seinem famosen Buch «Heisszeit» das lokale Erdbeben mit einer Stärke von 3.5 auf der Richterskala. Die Medien deckten das Unglück mit wüsten Einlassungen ein. Deutlich nüchterner kommentierte der Verein Geothermie Thurgau die Vorkommnisse. Präsident Josef Gemperle zeigte sich zwar «überrascht», warnte jedoch vor voreiligen Schlüssen und verlangte Aufklärung. Sie folgte auf dem Fuss: Am 13. Februar 2014 eröffnete ein zerknirschter St.Galler Stadtrat Fredy Brunner, dass die Wasserförderrate im Sittertobel zu gering und der Gasaustritt unakzeptabel hoch sei. Im Februar 2015 zog die Stadt dem Projekt den Stecker und im Juni einen Strich unter die Bilanz: Das Vorhaben hatte rund 60 Mio. Franken gekostet.

Thurgau hält an Geothermie fest

Die dunklen Wolken über St.Gallen trübten zwar kurzzeitig auch die Stimmung im Thurgau. Gleichwohl bekräftigte die damalige Thurgauer Regierung an einer vielbesuchten Geothermie-Sonderschau an der Weinfelder «Wega» im Herbst 2014, dass der Kanton an der Geothermie festhalte und die Nutzung der Erdwärme vorantreiben werde. Wenig später brütete allerdings das EKT letztmals über den eigenen Kraftwerksplänen und kam zum Schluss, dass die Gefahr für ein Erdbeben im Oberthurgau zu gross sei. Darum stampften das EKT und die Axpo ihre Pläne für das Kraftwerk ein und lösten das ursprünglich gebildete Konsortium auf. Somit steht heute als einziges das in Etzwilen angedachte Geothermiekraftwerk der «Geo-Energie Suisse» noch in der Agenda. Ob und wann es fortgeführt werden kann, ist derzeit offen. Gegen das Vorhaben liegen unter anderem lokale Einsprachen vor, über die noch entschieden werden muss.

  

«Im Wandel zu einer Gesellschaft ohne Atomstrom kommt der Geothermie eine besondere Bedeutung zu.»

Geothermie im Wandel der Energiepolitik

Die ersten zehn Jahre des Vereins Geothermie Thurgau bilden bis zum heutigen Tag den durchgreifenden Wandel der Energie-, Umwelt- und Klimapolitik ab. Der Ausstieg aus der Atomkraft, die Förderung von erneuerbaren Energien und das Voranbringen der Energieeffizienz bilden seit jeher die Eckpfeiler des Vereins. Er war einst mit dem Anspruch angetreten, die Bevölkerung mit kompetenter Information auf der gemeinsamen Reise zu einem Thurgauer Geothermie-Kraftwerk zu begleiten. Was ein solches unter guten geologischen Voraussetzungen zu leisten imstande wäre, haben im Verlauf der Zeit einige hundert Mitglieder auf einem Dutzend Reisen und Besichtigungen im In- und Ausland erfahren. Etwa in Deutschland beim Besuch von Geothermie-Kraftwerken in Insheim in der Oberpfalz sowie Taufkirchen und Grünwald in Bayern.

«Zu viele gute Projekte sind nicht am mangelnden Optimismus gescheitert, sondern an fehlenden Grundlagen.»

Geothermie-Gesamtbild im Umbruch

Doch im selben Zeitraum hat sich nicht nur das Gesamtbild der Geothermie verändert, sondern auch die Funktion des Vereins. Neben den klassischen Exkursionen an die Brennpunkte der Forschung und anschaulichen Geothermie-Nutzungen baute er seine Funktion als Berater in enger Zusammenarbeit mit dem Kanton laufend aus, holte beispielsweise Gemüsebauern und Beerenzüchter ins Geothermie-Boot oder engagierte sich als kompetenter Berater in der kantonalen Gesetzgebung für das landesweit modernste Gesetz für die Nutzung des Untergrunds.

Der Blick in die Zukunft gründet auf den Lehren und Erkenntnissen aus der Vergangenheit: Zu viele gute Projekte sind nicht am mangelnden Optimismus gescheitert, sondern an fehlenden Grundlagen. Der Verein Geothermie Thurgau fordert daher mehr und bessere Daten über den tieferen Untergrund im Kanton Thurgau. Dafür hat er das Thema «Thurgauer Energie-Nutzung aus dem Untergrund» (TEnU) aufbereitet und als Projekt im Rahmen der Erlöse aus den TKB-PS-Erlösen eingereicht. In den nächsten zehn Jahren sollen rund 30 Mio. Franken in die Erforschung nachhaltiger Energiepotenziale fliessen. Das Vorhaben ist gut angekommen und wird im regierungsrätlichen Bericht an den Grossen Rat zur Ausführung empfohlen. So schliesst sich der Kreis zur Tagung der internationalen Bodenseekonferenz im Jahre 2009 in der Kartause Ittingen. Das Potenzial ist da. Jetzt sind weitere Taten gefragt.