Fokus Energie 2023

«Es braucht einen massiven Netzausbau»

«Es braucht einen massiven Netzausbau»
Lesezeit: 5 Minuten

Wie können KMU ihre Energie-Effizienz steigen? Welche Lehren wurden aus der Energiekrise gezogen? Droht im nächsten Winter ein Blackout? Und was macht die Politik? Andreas Koch, Geschäftsführer des KEEST Kompetenzzentrums Erneuerbare Energie-Systeme Thurgau in Münchwilen, über die wohl grössten Herausforderungen unserer Zeit.

Andreas Koch, der Mangel an Strom war für viele KMU vor wenigen Monaten noch eine akute Gefahr. Wie haben Sie diese Zeit beim KEEST erlebt?
Im Fokus stand das Schlagwort BCM – Business Continuity Management –, das zu einem Paradigmenwechsel und zu einem rigorosen Umdenken in den Unternehmungen führte. Die Frage nach der Aufrechterhaltung der Geschäftstätig-keit während einer drohenden Energie-Mangellage ist bis heute zentral, die Gefahr nach wie vor nicht gebannt. Wir haben deshalb für das BCM unser Dienstleistungsangebot erweitert.

Gleichzeitig wurden Sie als «Stimme der KMU» nebst weiteren Wirtschaftsvertretern in den Teilstab Energie des Kantonalen Führungsstabs berufen.
Dort durfte ich bei der kontinuierlichen Problemerfassung und Eventualplanung meine Erfahrungen einbringen und war somit auch stets auf dem aktuellen Stand der Lageentwicklung des russischen Angriffs auf die Ukraine und der damit einhergehenden neuen Herausforderungen für die Energiewirtschaft in Europa.

Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse aus der Energiekrise?
Wir sind auf Gedeih und Verderb von Stromimporten aus Deutschland und Frankreich abhängig, speziell im Winterhalbjahr. Das wird sich so schnell nicht ändern; das fehlende Stromabkommen mit der EU verschärft die Problematik zusehends. Ferner wurde offensichtlich, wie gross die Abhängigkeit Europas von russischem Gas ist, das zu einem grossen Teil zur Stromproduktion in Deutschland benötigt wird. Und schliesslich mussten wir erkennen, dass extrem volatile Energie-Preise massive negative Einflüsse auf die Wirtschaft mit sich bringen, Stichwort Inflation. Aus all dem folgere ich, dass temporäre Stromabschaltungen, sollten sie dann nötig werden, grossräumig bzw. für ganze Versorgungsgebiete auf der Netzebene fünf gemacht würden.

 

Sepp Fässler AG  Schöb_IFS  

«Unternehmen investieren, wenn sie sich daraus einen Wettbewerbsvorteil versprechen.»

Das heisst im Klartext?
Dass Mobilfunk und Internet – denn hier gibt es viele aktive Komponenten, die nur mit Personal, das nicht zur Verfügung steht, wieder in Betrieb gesetzt werden könnten – sowie auch der ÖV grösstenteils nicht mehr funktionieren. Das bedeutet: Die Wirtschaft und die Gesellschaft stünden still, die Konsequenzen wären dramatisch.

Sie haben es jeden Tag mit Unternehmen zu tun, die energieeffizienter werden möchten. Welche sind das?
Im Wesentlichen sind es in den Kantonen Thurgau und Schaffhausen Unternehmen mit einem jährlichen Stromverbrauch von mehr als 200 Megawattstunden, die im gesetzlichen Rahmen bzw. Vollzugs des Gross-Verbraucher-Artikels in der Pflicht sind, ihre Energie-Effizienz zu steigern. 

Die Energiewende ist kostenintensiv – aus rein ökologischen Gründen würden wohl die wenigsten Unternehmen in die Energiewende investieren. Wie schafft man die richtigen Anreize?
Das sehe ich nicht so. Unternehmen investieren, wenn sie sich daraus einen Wettbewerbsvorteil versprechen. Es gibt bereits heute viele technische ökologische Lösungen, die sich auch in wirtschaftlicher Hinsicht lohnen. Dazu gehören beispielsweise Photovoltaikanlagen mit einem möglichst hohen Eigenverbrauchsanteil. Dank unserer exklusiven Zusammenarbeit mit der Thurgauer Kantonalbank ist es für KMU möglich, solche Anlagen auch liquiditätsneutral zu realisieren. Bei der Frage nach Heizsystemen haben heute Wärmepumpen die Nase vorn vor Öl- und Gasheizungen.

 

Andreas Koch
Andreas Koch

Was braucht es seitens Politik?
Mehr gesunder Menschenverstand sowie ein sinnvoller Konsens und weniger ideologische, parteibedingte Grabenkämpfe. Angesichts der aktuellen Energiestrategie mit der starken Fokussierung auf Photovoltaik ergibt sich je länger, je mehr das Problem von massiven Produktionsüberschüssen im Sommer – und das zum Null-Ertragstarif, denn niemand kann diese gebrauchen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass der Überschuss-Strom nicht weggebracht werden kann. Das bedeutet, man muss die Anlagen abregeln, da sonst die Drähte glühen, was wirtschaftlich unsinnig ist.

Was schlagen Sie vor?
Es braucht einen massiven Netzausbau, um den Sommer-Überschussstrom von den vielen Dächern zum Beispiel zu einer grossen Fabrik für Wasserstoff oder zu einem Pumpspeicherkraftwerk zu transportieren. Stromversorgung ohne Netz geht gar nicht und der Umbau der Energieversorgung noch weniger, denn das Netz schafft erst die Voraussetzungen, damit Elektrifizierung, Sektorkopplung, erneuerbare Energien, Effizienz und Flexibilität inkl. Speicher Hand in Hand gehen. Hier muss der Ball von der Politik rasch und konsequent aufgenommen werden!

Zurück zu den KMU: Welche konkreten wirtschaftlichen Vorteile ergeben sich für Unternehmen durch die Implementierung von Energie-Effizienzmassnahmen?
Simpel und einfach: nachhaltig weniger Energiekosten – im Schnitt 15 Prozent und damit eine verbesserte Wettbewerbsposition.

 

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Welche Branchen könnten besonders profitieren?
Im Wesentlichen sind dies die produzierenden KMU in Industrie und Gewerbe, aber auch Dienstleistungsbetriebe wie Hotels und Gaststätten sowie Kommunen mit Schulhäusern oder Turnhallen.

Gibt es bewährte Methoden, wie Unternehmen möglichst einfach ihre Energieeffizienz verbessern können?
Die üblichen Verdächtigen sind energietechnische Gewerke im Bereich Heizung, Lüftung, Kälte, Klima und Druckluft und dann natürlich die betriebs- und produktionstechnischen Anlagen. Die Optimierung bedingt jedoch fachtechnisches Wissen und Erfahrung, um einen entsprechenden Nutzen für die Unternehmung zu erwirken. «Copy Paste» geht nicht. Jedes Unternehmen muss in seinen Eigenheiten analysiert und wirtschaftlich energetisch optimiert werden. 

Das kann das KEEST?
Ja. Wir bieten den KMU diverse Dienstleistungen an, etwa den Energie-Check KMU®, aber auch technische Prozessanalysen oder Machbarkeitsstudien. Aufgrund unseres Leistungsauftrags können wir unsere Arbeiten neutral und unabhängig erstellen, da wir mit keinem Ingenieurbüro oder Fachplaner verbandelt sind, was von unseren Kunden sehr geschätzt wird. Dank des Thurgauer Förderprogramms Energie profitieren diese auch stets von einem Beitrag von 50 Prozent, was die Kosten für unsere Arbeiten entsprechend tief hält.

 

Gibt es vergleichbare Angebote auch in anderen Kantonen – oder an wen wenden sich Nicht-Thurgauer Unternehmen, wenn sie auf dem Weg zur optimalen Energie-Effizienz begleitet werden möchten?
Das KEEST in seiner Art gibt es nur im Thurgau, seit mittlerweile bald 15 Jahren. Im Kanton Schaffhausen erbringen wir unsere Dienstleistung in ähnlicher Form unter dem Dach des ITS Industrie- und Technozentrum Schaffhausen. Im Kanton St.Gallen gelangt man an die Energieagentur. In anderen Kantonen wenden sich KMU an die Act Cleantech Agentur Schweiz oder ähnliche Institutionen.

In welcher erneuerbaren Energie sehen Sie aktuell das grösste Potenzial?
Eine Differenzierung ist nicht zielführend. Wir benötigen alle verfügbaren Alternativen an erneuerbaren Energieträgern zum entsprechenden Zeitpunkt. Disruption ist hier das Schlüsselwort, die bessere Lösung verdrängt die gute. Gegenwärtig freuen wir uns im Thurgau sehr darüber, dass die tiefe Geothermie endlich wieder forciert wird, dies dank Mitteln von Bund und Kanton von rund 50 Millionen Franken. Eine einmalige Chance, die es nicht zu verpassen gilt!

In Anbetracht all dieser Aspekte: Wie blicken Sie in die Zukunft?
Gemischt optimistisch. Zum einen müssen wir als Gesellschaft lernen, mit dem Klimawandel zu leben und dafür Strategien und Verhaltensweisen entwickeln. Dazu gehört auch das Problem im Umgang mit Wasserknappheit im Sommer oder mit Migration bzw. Klimaflüchtlingen. Das Rad zurückdrehen können wir nicht mehr. Zum anderen bieten neue Technologien Chancen, weniger abhängig von Importen von fossiler Energie zu werden – eine schmerzliche Erkenntnis aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Dank des Fortschritts von alternativer Stromproduktion mit erneuerbaren Energien und dem dafür notwendigen Ausbau der Stromnetze, gepaart mit sinnvoller Speichertechnologie, hoffe ich, dass wir als Schweiz somit auch die Winterstromlücke meistern und damit die Energie-Versorgungssicherheit nachhaltig wieder zurückgewinnen.

Text: Miryam Koc

Bild: istock, zVg

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