Fokus Energie 2022

Existenzielle Bedrohung

Existenzielle Bedrohung
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Der Krieg in der Ukraine führt zu weltweiten Verwerfungen in der Wirtschaft. Insbesondere der erschwerte Zugang zu Energie hat gravierende Auswirkungen. Ein Mangel an Strom würde viele Ostschweizer KMU akut gefährden.

Die Schweiz erlebt gerade eine Energiekrise, deren Ausmasse noch kaum abzuschätzen sind. Klar ist: Jegliche Energie wird teurer, Strom kostet auf dem freien Markt teilweise das Zehnfache als noch anfangs 2021. Doch Unternehmer rätseln nicht nur, wie sie solche Rechnungen berappen sollen. Sie befürchten auch, dass sie bestimmte Energieträger gar nicht in ausreichender Menge beschaffen können.

Zum ersten Mal ist unser Land nicht in dieser Situation. Schon 1973 merkten die Eidgenossen, dass sie nicht alleine auf der Welt sind und dass der Triebstoff unserer Wirtschaft vielfach aus Ländern kommt, die nicht nur sympathisch sind. Daran hat sich im Wesentlichen kaum etwas geändert. Damals wie heute wurde ein Wandel wurde proklamiert, passiert ist vor 50 Jahren freilich so gut wie nichts.

1986 schockierte dann die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl die Welt. Der Schweiz bescherte der GAU vor allem einen kultigen Auftritt ihres Energieministers. Bundesrat Adolf Ogi gab 1988 den Startschuss zum Energiesparprogramm «Bravo» und zeigte im Fernsehen, wie Eier effizient gekocht werden sollen. (Falls noch jemand einen alten Herd mit schweren Platten hat: Eier in den Kochtopf, nur ein Finger hoch Wasser einfüllen, Deckel drauf, anstellen, wenn das Wasser kocht, Herd ausschalten, Eier einige Minuten im Topf lassen.)

Atomkraft? Jein!

Energiepolitik ist nationale Interessenpolitik. Frankreich hat über 50 Atomkraftwerke, die Hälfte davon war im Sommer allerdings ausser Betrieb. In Deutschland scheint das Atomzeitalter fast schon vorbei zu sein. Die deutsche Politik hatte den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, dann aber eine Laufzeitverlängerung ausgehandelt, nach der Katastrophe von Fukushima (2011) wurden die Reststrommengen wieder beschnitten. Deutschland kalauerte vom «Ausstieg vom Ausstieg aus dem Ausstieg».

Aktuell sind bei unserem nördlichen noch drei Kernkraftwerke mit Baujahr 1982 in Betrieb, die Reaktoren aus den Sechziger- und Siebzigerjahren produzieren keinen Strom mehr: Sechs Anlagen sind ausser Betrieb, 28 Kraftwerkslinien befinden sich schon im Rückbau (teilweise mehrere Kraftwerke an einem Standort). 23 weitere Kraftwerkslinien, die geplant und teilweise auch schon gebaut wurden, haben den Betrieb nie aufgenommen. Von den 45 Forschungsreaktoren in Deutschland sind noch deren sechs in Betrieb.

Deutschland hatte auch den Ausstieg aus der Braunkohle und Steinkohle bis 2038 verkündet und wollte eigentlich dieses Szenario noch beschleunigen – davon spricht inzwischen niemand mehr. Im ersten Halbjahr 2022 stammte nämlich mehr als 30 Prozent des Stroms aus Kohlekraftwerken. Auch aus Gas wird in Deutschland Strom gewonnen. Alle erneuerbaren Energiequellen (Wind, Sonne, Wasser) steuerten zusammen etwas mehr als die Hälfte des Strombedarfs bei, wie Deutschlands Statistisches Bundesamt errechnete.

 

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Schweiz muss Strom importieren

Für die Schweiz sind diese Zahlen sehr relevant, denn unser Land liefert in den Sommermonaten zwar Strom an die europäischen Nachbarn, im Winter aber ist die Schweiz von Strom- importen abhängig, 2413 Gigawattstunden mehr, als die Schweiz vor allem nach Italien exportiert hat. Im letzten Jahr importierte die Schweiz 20'705 Gigawattstunden aus Frankreich, 8 860 aus Deutschland, 4 067 aus Österreich und 1  732 aus Italien.

Fliesst also Strom aus Braunkohle-Kraftwerken aus Schweizer Steckdosen? Ja, auch wenn der europäische Zertifikatshandel uns anderes weismachen will. Wer Braunkohlestrom importiert, kann gleichzeitig Zertifikate für sauberen Strom aus Island oder Norwegen kaufen, der Strom aus Kohle wird so Label-technisch zu Energie aus Wasserkraft. Auch wenn es zwischen Island und der Schweiz gar keine Stromleitungen gibt. Ein eigentlicher Etikettenschwindel, wie die NZZ im Januar 2022 in einer Datenanalyse aufzeigte: Während die Schweizer Stromproduktion 2021 durchschnittlich 58 Gramm CO2 pro Kilowattstunde ausgestossen habe, seien es beim Importstrom mit 193 Gramm mehr als dreimal so viel.

Braunkohlestrom wird Label-technisch zu Wasserkraft.

Ohne Atomstrom geht es noch nicht

Gut 60'000 Gigawattstunden Strom hat die Schweiz 2021 selbst produziert, immerhin 62 Prozent davon mit Wasserkraftwerken. Weitere 29 Prozent liefern die heimischen Kernkraftwerke Beznau 1 und 2, Gösgen und Leibstadt. Der Reaktor in Mühlenberg wurde 2019 vom Netz genommen, weitere Abschaltungen dürfe es in nächster Zeit nicht geben. Der helvetische Atomausstieg war schon vor Putins grössenwahnsinnigem Überfall auf die Ukraine und all den daraus entstandenen Verwerfungen eine sportliche Übungsanlage. Heute geht auch bei als Atomkraft-Gegnern sozialisierten Politikern die Versorgungssicherheit vor. Die restlichen knapp 10 Prozent heimischen Stroms liefern thermische Kraftwerke (meistens mit konventionellem Gas betrieben) und erneuerbare Quellen wie Wind, Photovoltaik und Biogas.

Übers Jahr gesehen produziert die Schweiz also fast so viel Strom, wie sie benötigt. Liesse sich der Überschuss des Sommers in den Winter retten, wäre das Land annähernd autark. In der Realität ist die Schweiz aber noch weit davon entfernt.

Wenn man den ganzen Energiemix betrachtet, wird die Auslandsabhängigkeit sogar ungemütlich gross. «Energetisch war die Schweiz 2021 zu 70 Prozent vom Ausland ab- hängig», stellt das Bundesamt für Statistik fest. Und fügt immerhin bei: «Tendenz sinkend». Tatsächlich lag diese Abhängigkeit noch bis etwa 2010 bei rund 80 Prozent.

Importiert werden neben Strom im Winter ganzjährig vor allem Erdöl für Brenn- und Treibstoffe und Erdgas, aber auch nukleare Brennelemente für den heimischen Atomstrom.

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Ziel: Keine Treibhausgase ab 2050

Die Erkenntnis, dass der Klimawandel grundsätzlich zu einer Abkehr von fossilen Energieträgern zwingt, hat sich in Europa einigermassen durchgesetzt. Der Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist aber ziemlich holprig. Und vor allem: lang.

Die Schweiz bastelt seit 2011 – der Katastrophe in Fukushima – an der Energiestrategie 2050. Dem Start entsprechend lag der Fokus nicht auf der CO2-Vermeidung, sondern auf dem schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie. 2015 fiel die Laufzeitbeschränkung für Kernkraftwerke allerdings wieder, dafür wurden die Förderung erneuerbarer Energie und steuerliche Anreize zur Gebäudesanierung ins Paket aufgenommen. 2016 wurde die Atomausstiegsinitiative von Volk (mit 54,2 Prozent Nein) und Ständen abgelehnt. 2017 wurde aber das neue Energiegesetzt deutlich gutgeheissen (58,2 Prozent Ja), obwohl die Wirtschaft vor «Bürokratie und Planwirtschaft» warnte. Der Bundesrat hat in der Folge 2019 das sogenannte Netto-Null-Ziel proklamiert: Ab 2050 soll die Schweiz unter dem Strich keine Treibhausgase mehr emittieren.

Putin zwingt zum Umdenken

Nicht die Klimabewegung hat aber plötzlich Energie in die Energiediskussion gebracht, sondern die Sowjet-Nostalgie des russischen Diktators. Dass Wladimir Wladimirowitsch Putin seinen Minderwertigkeitskomplex in einem barbarischen Angriffskrieg auf ein Nachbarland auslebt, hätten selbst Pessimisten für unwahrscheinlich gehalten. Insbesondere Deutschland, dass sich stur und konsequent in die Abhängigkeit von billiger russischer Energie, vor allem Gas, manövriert hat, erlebt ein böses Erwachen. Aber auch in weiten Teilen der Deutschschweiz wird man gerade unsanft auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass die Gasversorgung im Wesentlichen eine Verlängerung deutscher Infrastrukturen ist. Drei Viertel vom Gas in der Schweiz strömt von Norden ins Land.

Die freiwillige Abhängigkeit von billiger russischer Energie wurde von der deutschen Politik auch dann nicht infrage gestellt, als sich Putin 2014 mit militärischer Gewalt die Krim unter den Nagel riss und begann, den Donbas mit Krieg zu überziehen. Man bemühte Floskeln wie «Wandel durch Handel», die letztlich billige Alibis blieben. Tatsächlich hat dieser Ansatz in Russland ebenso wenig funktioniert wie in China – wo der ganze Westen in Sonntagsreden Menschenrechtsverletzungen kritisiert und an Werktagen mit einem Bückling Investitionen und Know-how ins Land bringt. Deutschland als wichtigster Handelspartner der Schweiz ist inzwischen zu 40 Prozent auf den Aussenhandel angewiesen – allein zehn Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung entfallen auf den Handel mit China.

Angenommen, der Diktator in Peking tut es seinem Kollegen in Moskau gleich und greift tatsächlich Taiwan an: Wie will der Westen reagieren? Echte Sanktionen würden die schwächelnde chinesische Wirtschaft wohl empfindlich treffen, sie würden aber auch dem Westen einiges abverlangen. Die aktuelle Energiekrise wäre erst ein Vorgeschmack.

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Ostschweiz fürchtet Strommangellage

Auch ohne einen weiteren Krieg, den die Welt nicht braucht, haben die grossen und kleinen Firmen in der Ostschweiz mit riesigen Herausforderungen zu kämpfen. Das Konjunkturboard Ostschweiz (getragen von der IHK St. Gallen-Appenzell und der St.Galler Kantonalbank in Zusammenarbeit mit der IHK Thurgau und dem Amt für Wirtschaft St.Gallen) hat gerade eine Befragung dazu publiziert: Ein Drittel der Unternehmen sehen in einer möglichen Strommangellage eine existenzielle Bedrohung, ein weiteres Drittel sieht sich immer noch eine gravierende Bedrohung in einem solchen Szenario.

Für viele Unternehmen ist es nicht ein Faktor alleine, der ihnen das Leben schwer macht, sondern das Zusammentreffen vieler negativer Einflüsse. Auch wenn noch der Strom fliesst, Gas erhältlich ist, Diesel getankt werden kann: Die Preise für Energie steigen in ungeahnte Höhen – was sich schon daran zeigt, dass Preisdifferenzen nicht in Prozent, sondern mit Faktoren beschrieben werden. Auch viele Rohstoffe und Vorprodukte sind schwieriger zu bekommen und ebenfalls teurer. Eine Umfrage im Rahmen von Eco Ost der beiden Ostschweizer IHK vom Juni 2022 zeigte allerdings, dass noch vor unsicherer konjunktureller Entwicklung, Lieferkettenproblemen und gefährdeter Energiesicherheit ein anderes Problem den Unternehmen in der Region die grössten Sorgen bereitet: Der Fachkräftemangel.

Was den vermeintlich beruhigenden Umkehrschluss zuliesse: Noch gäbe es einiges zu tun für die heimische Wirtschaft, wenn ihnen nicht jemand den «Pfuus» abstellt.

Die beiden Ostschweizer IHK haben vier Handlungsfelder festgehalten, die für die Sicherstellung der Energieversorgung in der Schweiz entscheidend seien. Die Verbände propagieren dabei nicht etwa eine Abkehr von der Auslands- abhängigkeit, sondern plädieren für staatsvertragliche Ko-operationen mit dem Ausland, um auch dort erneuerbare Energien für die Schweiz nutzbar zu machen. Daneben soll auch hierzulande das Potenzial an inländischer erneuerbarer Energie besser ausgeschöpft werden können. Mehr als zwei Drittel der befragten Ostschweizer Unternehmen befürworten einfachere Bewilligungsverfahren für erneuerbare Energien und befürworten die Erhöhung von Staumauern bestehender Stauseen. Weniger als die Hälfte, aber immerhin 43,5 Prozent der Firmen sprechen sich für den Bau neuer Kernkraftwerke aus.

Als Sofortmassnahme fordern die beiden IHK, dass die Politik eine Energiemangellage verhindert und Vorbereitungen für mögliche Notfälle trifft. Dann soll die Politik auch helfen, die Energieeffizient der Verbraucher im Land zu verbessern und die Transformation zu neuen Technologien unterstützen.

Handlungsfelder zur Sicherung der Energieversorgung

Die IHK St. Gallen-Appenzell und die IHK Thurgau stellen im Rahmen der Plattform EcoOst Forderungen zur Sicherung der Energieversorgung an die Politik.
Die IHK St. Gallen-Appenzell und die IHK Thurgau stellen im Rahmen der Plattform EcoOst Forderungen zur Sicherung der Energieversorgung an die Politik.

Text: Philipp Landmark

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