St.Gallen

«Architektonische Spitzenklasse»

«Architektonische Spitzenklasse»
Das damalige Stadttheater, noch ohne die Serra-Skulptur im Stadtpark.
Lesezeit: 4 Minuten

Das Theater St.Gallen ist bis heute eine Referenz für Kulturbauten: Sein Grundriss beruht auf einem Raster aus Sechsecken, der sich bis in den hintersten Winkel erstreckt. Eine architektonische Würdigung von Caspar Schärer, Generalsekretär Bund Schweizer Architektinnen und Architekten BSA.

Das Theater St.Gallen steht für vieles und muss für vieles herhalten. Zunächst aber ist es ein Werk architektonischer Spitzenklasse, wie es sie in der Ostschweiz nur wenige gibt. Neben der Hochschule auf dem Rosenberg der Architekten Walter Förderer, Rolf Otto und Hans Zwimpfer gehört es gar schweizweit zu den herausragenden Bauten der sogenannten Nachkriegsarchitektur. Das hat seine Gründe. Wie immer, wenn man Architektur anschaut und beurteilt, geht es um Ideen und Räume. In diesem Fall eines öffentlichen Gebäudes kommt als weiterer Faktor die Repräsentation hinzu.

Beim Neubau für das Theater hatte der Architekt Claude Paillard mehrere Ideen, die sich ineinander verschränken und auf unterschiedliche Weise in der Architektur zeigen. Sie alle lassen sich aber auf eine einzige einfache Idee zurückführen: Der Grundriss beruht auf einem Raster aus Sechsecken. Paillard begründet diese Idee in der simplen Tatsache, dass sich ein Zuschauerraum von der Bühnenrampe her ja aufweite, also von dieser Kante ausgehend zwei offene Winkel ausgehen. Mit diesem Gedanken ist das Sechseck eigentlich schon fertig gedacht.

Das eine tun, ohne das andere zu vergessen

So passiert es oft in der Architektur: Ein in der Funktion begründetes Argument ist der Anlass zu einem weit grösseren Abenteuer. Wenn nur die Funktion im Vordergrund gestanden hätte, würde das Theater St.Gallen ganz anders aussehen. Andererseits prägt die Funktion die Gestalt des Theaters massgeblich – man denke nur an den Bühnenturm. Es ist eben kompliziert und gute Architektur zeichnet sich dadurch aus, dass sie das eine berücksichtigt, ohne das andere zu vergessen.

Als geometrische Form beschreibt das Sechseck eine offene, fliessende Figur, die sechs Richtungen anbietet. Paillard selbst erklärte, dass es eine bewegte, beschwingte Atmosphäre ermögliche. Konsequent und mit Wonne schöpft er dieses Potenzial aus: Über den ganzen Grundriss legt er einen Sechseckraster, der sich bis in den hintersten Winkel erstreckt. Er ist überall anzutreffen, sogar in der Beleuchtung und bei den Türgriffen. Das Theater musste in die Höhe gebaut werden, damit es am Boden möglichst wenig Parkfläche besetzt. Für die Planer wird die Arbeit mit einer solchen Anforderung nicht einfacher. Sie würden die Räume lieber nebeneinander anordnen; jetzt müssen sie sie stapeln. Mit den funktionalen und technischen Anforderungen als Leitplanken und dem Sechseckraster als praktischer Planungshilfe türmt Paillard einen kompakten und zugleich komplexen Gebäudeberg im Park auf. Er bearbeitet den Beton – das Schweizer Baumaterial par excellence! – wie ein Bildhauer, schneidet hier ab, schichtet dort um, bis es stimmt.

 

Paillard hievt St.Gallen auf die Landkarte der Architektur

Für die Besucherinnen und Besucher des Theaters hat sich die Mühe des Architekten gelohnt. Er offeriert ihnen ein aussergewöhnlich grosszügiges Erdgeschoss und ein Foyer, das seinesgleichen sucht. Dieser Raum ist zugleich ein Weg und lädt doch zum Verweilen ein, zum Sehen- und Gesehenwerden. Hier, im Foyer, entfaltet das Sechseck seine ganze Kraft: Der Raum fliesst in alle Richtungen, es entstehen Nischen und Hallen, Promenaden und schmale Gassen. Stufe für Stufe schraubt man sich nach oben, merkt es fast nicht, wie man steigt, schaut hinaus auf den Park oder zurück in die Halle und steht plötzlich vor der Türe zum Zuschauerraum. Paillard hat uns hierher geführt und wir fühlten uns immer sicher, obwohl wir wahrscheinlich die Orientierung verloren haben. Aber das macht nichts. Als Nächstes kommt der grosse Saal – in Sechseckform –, und jeder Sitzplatz hat eine Nummer.

Mit dem Prozessionsweg, der schon draussen unter dem grünen Vordach anfängt, schuf Claude Paillard eine Sensation, die St.Gallen mit einem Schlag auf die Landkarte der zeitgenössischen Architektur katapultierte. Der Vergleich mit Bilbao, das mit dem Guggenheim Museum seit den 1990er-Jahren etwas Ähnliches erlebt, ist vielleicht etwas gewagt, aber im Grundsatz handelt es sich um einen ähnlichen Effekt. Das Theater St.Gallen war ein Leitbau der Schweizer Architektur der späten 1960er-Jahre und ist bis heute eine gültige Referenz für Kulturbauten geblieben.

Umfassendes Verständnis von Gesellschaft

Neben all diesen architektonischen Qualitäten ist das Theater ein zutiefst demokratischer Bau. Im 19. Jahrhundert zeugten die damals neuen Opern- und Schauspielhäuser mit Prunk und Pomp vom Stolz eines Bürgertums, das endlich angekommen war und sich in seiner Repräsentation an den Palästen der Adligen orientierte. Das Bürgertum der Nachkriegszeit hatte andere Prioritäten: Es hatte ein umfassendes Verständnis von Gesellschaft und versuchte diese einzumitten. Das bedeutete, dass alle daran teilnehmen konnten. Ein offensichtlicher Ausdruck dieser Wohlfahrtsidee sind die Sozialwerke. Doch wie vergewissert sich eine solche egalitäre Gesellschaft mit ihren Bauten? Was ist ihr Bild von sich selbst?

Das Theater St.Gallen ist ein Paradebeispiel für die Repräsentation dieser «grossen Gesellschaft». Es ist ein beredter Zeuge jener 1960er-Jahre, als so vieles in Bewegung geriet, die grundsätzliche Richtung aber immer klar war: Nach vorn, nach oben, immer weiter. Und dabei sollten möglichst viele mitgenommen werden. Dass es anders kam: geschenkt. Wer weiss heute schon, was in zehn Jahren ist? Aber Bauten wie das Theater St. Gallen erinnern uns daran, wie neugierig und erwartungsvoll die Gesellschaft damals in die Zukunft blickte. Es lohnt sich, diesen Bauten Sorge zu tragen. Optimismus ist eine rare Ressource.

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