«Stillstand ist Rückschritt»
Sven Wassmer, wenn Sie auf die Jahre seit der Eröffnung 2019 zurückblicken: Was hat sich verändert, was ist gleichgeblieben?
Der grösste Unterschied bin ich selbst. 2019 war ich 32, lancierte gleichzeitig zwei Restaurantkonzepte – das Sven Wassmer Memories und das Verve by Sven, im Grand Resort Bad Ragaz. Rasch erhielt das Memories zwei Sterne, ich visierte den dritten an – und sprach öffentlich darüber. Das erzeugte enormen Druck. Heute sind wir gelassener, reifer geworden. Wir wissen genauer, was wir wollen. Ich habe viel an mir gearbeitet, auch an Leadership-Qualitäten und Resilienz. Meine Ruhe färbt aufs Team ab. Unsere Philosophie der modernen Alpenküche ist seit Anfang an gleichgeblieben.
War das «nur» ein persönlicher Reifungsprozess oder spürt man ihn auch im Restaurant?
Beides. Früher machten mich meine Ambitionen angreifbar. Wenn man sagt: «Ich will drei Sterne», dann reden alle mit. Ich habe gelernt, offener und authentischer zu sein, meinen Schutzschild abzulegen. Heute herrscht im Team eine andere Kultur: Wir akzeptieren Fehler, solange wir daraus lernen. Das Wichtigste ist, dass niemand stehenbleibt – Stillstand ist Rückschritt. Diese Haltung gibt Sicherheit und Vertrauen. Und das spüren auch Gäste.
Wie schafften Sie Leadership und Resilienz?
Ein Profifussballer hat Mentaltrainer, Bewegungscoach, Ernährungsberater, Resilienztrainer. In der Küche gibt es das nicht – obwohl wir täglich auf Champions-League-Niveau performen. Ich machte gezielt Coachings. Das half mir enorm, mit Druck, Erwartungen und Emotionen umzugehen. Vor allem lernte ich: Leadership kann man lernen. Aber man muss mit sich selbst im Reinen sein, bevor man es auf ein Team übertragen kann.
«Wenn man sagt: ‹Ich will drei Sterne›, dann reden plötzlich alle mit.»
Ihre Küche nennen Sie «Swiss Alpine Cuisine». Wie definieren Sie die?
Es geht um Authentizität. Wir arbeiten mit Produkten aus dem Alpenraum – sieben Länder, von Liechtenstein und Vorarlberg bis ins Allgäu, aus Savoyen und dem Tessin. Die Küche ist produktgetrieben, minimalistisch, reduziert aufs Wesentliche. Man soll sehen und schmecken, was man isst. Wir ziehen das kulinarische Erbe in die Moderne, ohne es zu verfälschen. Deshalb stellen wir so viel selbst her: eigene Misos oder Sojasaucen etwa – aus lokalen Rohstoffen. Das macht uns unverwechselbar. Wer einkauft, bleibt austauschbar.
Wie kann man aus der simpel-rustikalen Alpenküche drei Sterne herausholen?
Das stimmt so nicht. Die Schweiz ist ein Bauernland, die Milchwirtschaft unser Rückgrat. Das prägte unsere Kultur. Die alte Küche war schwer, weil die Leute hart arbeiteten. Aber das bedeutet nicht, dass sie langweilig ist. Im Gegenteil: Wir haben einen unglaublichen Reichtum direkt vor der Haustür. Wir haben nur verlernt, das zu schätzen. Mein Ziel ist, diesen Schatz sichtbar zu machen – und modern zu interpretieren. Deshalb verzichte ich auf Olivenöl, Zitrusfrüchte oder Salzwasserfisch. Ich liebe Olivenöl, aber es hat in meiner Küche keinen Platz. Wir haben genug hochwertige Öle aus der Schweiz. Für Säure nehmen wir Sanddorn oder Sauerampfer. Das ist alpin.
«Für mich ist es faszinierend, dass die Natur sich wandelt und wir diesen Wandel auf dem Teller zeigen können.»
Macht sich der Klimawandel bemerkbar in Ihrer naturnahen und saisonalen Philosophie?
Sehr stark. Früher hatten wir Sammelkalender: im März Bärlauch, im Mai Holunderblüten, im Sommer Beeren. Heute blüht der Bärlauch manchmal schon im Januar. Vor drei Jahren erfroren uns alle Holunderblüten. Unsere Antwort: konservieren. Wir trocknen Blüten, legen unreife Beeren ein, kochen reife ein. Aus einer Pflanze entstehen vier, fünf Produkte: Sirup, Kapern, Pickles, Konfitüre. So haben wir Vielfalt auch im Winter. Aber wir sind abhängig von der Natur, das macht die Arbeit herausfordernder.
Ketzerische Frage: Isst man im Sven Wassmer Memories im Winter genauso gut wie im Sommer?
Absolut, es ist einfach anders. Im Winter sind die Teller reduzierter, weniger bunt – jetzt im Herbst eher braun- und rotstichig. Aber das passt zur Jahreszeit. Wir transportieren Frische durch konservierte Aromen, durch winterresistente Kräuter. Für mich ist es faszinierend, dass die Natur sich wandelt und wir das auf dem Teller zeigen.
Welche Signature-Gerichte stehen für das Sven Wassmer Memories?
An erster Stelle der Bergsaibling aus dem Val Lumnezia. Wir räuchern ihn leicht mit einer selbstgemachten Räuchermehlmischung aus getrockneten Tannenzapfen und Bergheu. Dann würzen wir mit Tannenschösslingen und Salz, servieren ihn mit einer Sauce aus karamellisiertem Sennenrahm und Tannenöl. Gäste kommen aus aller Welt dafür. Dann die Knöpfli mit gerösteter Hefebutter, Käsewasser und einem Trüffelpüree. Je nach Saison variieren wir das Topping: weisser Trüffel, Belperknolle oder andere Sorten. Und drittens der Kaviargang: eine ultra-frische Edition in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Oona-Kaviar, die innerhalb von vier Tagen vom Stör ins Restaurant kommt. Der Kaviar ist buttrig, geschmeidig, sehr frisch – und wir servieren ihn nicht sparsam.
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Das Sven Wassmer Memories bietet nur Menüs.
Weil wir ein Gesamterlebnis schaffen. Aber es gibt eine kleine Signature-Sparte: Die Knöpfli oder mein Käseküchlein – ein Kindheitserinnerungsgericht – können Gäste zusätzlich bestellen.
Kindheit ist ein gutes Stichwort. Welche Erinnerungen prägen Ihre Küche?
Ich komme nicht aus einer Gastrofamilie, aber Essen war bei uns immer wichtig. Wir hatten einen grossen Garten, viele Obstsorten, Kartoffeln im Naturkeller. Essen war ein sozialer Mittelpunkt. Ich habe schon als Kind im Garten gearbeitet, Beete gepflegt, geerntet. Diese Erfahrungen prägen mich bis heute. Darum heisst das Restaurant Sven Wassmer Memories: Es geht darum, Erinnerungen zu schaffen. Für mich, für mein Team, für die Gäste.
Wie entstehen neue Gerichte?
Kreativität braucht Ruhe. Unter Druck funktioniert sie nicht. Ich lernte das auch von Stammgästen. Am Anfang dachte ich, ich müsse jedes Mal ein komplett neues Menü bringen. Bis Gäste mir sagten: «Wir kommen, weil wir Gerichte wieder essen wollen.» Das machte mich entspannter. Innovation entsteht bei uns kontinuierlich. Mit meinem Sous-Chef Ruari May entwickle ich Ideen, wir testen, beziehen Sommeliers früh ein – ihre sensorische Meinung ist wichtig. Bevor ein Gericht ins Menü kommt, hat es mehrere Stufen durchlaufen: erste Versuche, Degustationen, Abstimmung mit Wein- und alkoholfreien Getränken, Teamtesting. Alles wird dokumentiert. Zusätzlich gibt es unseren «Freaky Friday»: Dann bekommt das Team eine Aufgabe – ein Snack, ein neues Häppchen mit saisonalen Produkten. Oft entstehen daraus fantastische Gerichte. Das ist wichtig: Kreativität kommt nicht nur von mir, sondern vom ganzen Team.
«Gastronomie ist für mich auch ein Ort der Inklusion, ein Ort, der Menschen verbindet.»
Wie wichtig ist das Drumherum – Service, Ambiente, Weinbegleitung?
Extrem wichtig. Es beginnt bei der Reservation. Wir rufen Gäste eine Woche vor ihrem Besuch an, bestätigen alles. In einer schnelllebigen Welt ist persönlicher Kontakt wertvoll. Dann das Ankommen, die Begrüssung, die ersten Häppchen, die Erklärungen – das gehört alles dazu. Für mich macht das Essen vielleicht 40 Prozent des Erlebnisses aus. Der Rest sind Service, Getränke, Atmosphäre. Das Wichtigste ist, dass wir gute Gastgeber sind und mit Sebastian Stichter als Restaurant-Manager habe ich die richtige Schlüsselperson an meiner Seite.
Sie haben neben drei Sternen auch den Grünen Michelin-Stern. Was mussten sie dafür tun?
Der Grüne Stern war keine zusätzliche Hürde, sondern Anerkennung für etwas, das wir ohnehin leben. Wir verarbeiten Rüstabfälle weiter, machen daraus zum Beispiel Sojasaucen. Wir verzichten auf Plastik und Sous-Vide, arbeiten mit klassischen Methoden wie Grillen, Braten, Dämpfen. Nachhaltigkeit bedeutet für mich auch soziale Verantwortung: Wir haben eine Vier-Tage-Woche, Mittwoch bis Samstag. Klar, die Tage sind lang, aber die Freizeit ist fix. Ich will niemanden ausbrennen lassen. 16-Stunden-Tage sind nicht zeitgemäss.
Unternehmerisch haben Sie mit der Wassmer Family Group den Schritt in die Selbstständigkeit gemacht. Warum?
Weil ich nie eine bequeme Person war. Angestellt zu sein, war nicht mehr mein Weg. Heute sind wir seit knapp drei Jahren selbstständig. Wir pflegen weiterhin eine tolle Kooperation mit dem Grand Resort Bad Ragaz, aber wir tragen die Verantwortung. Manche Leute hatten oder haben immer noch Vorurteile gegenüber dem Sven Wassmer Memories – ein Hotel-Marketingmagnet. Für uns ist entscheidend: Ein Konzept muss sich auch finanziell tragen. Ein leeres Restaurant bedeutet: Das Konzept stimmt nicht. Nur wenn Gäste kommen, nur wenn es funktioniert, erreicht man die gastronomische Spitze. Meine Frau Amanda Wassmer-Bulgin ist dabei mein wichtigster Sparringpartner. Sie ist COO der Family Group, Weinexpertin und treibt unsere Projekte mit voran. Gemeinsam haben wir viele Ideen.
Welche?
Es gibt Überlegungen für ein weiteres Restaurant – vielleicht in der Schweiz, vielleicht im Ausland. Noch ist nichts konkret, aber Ideen sind da. Gleichzeitig berate ich andere Betriebe, helfe bei Transformationen und Konzeptentwicklungen. Wissen weiterzugeben, macht mir Freude. Gastronomie ist für mich auch ein Ort der Inklusion, ein Ort, der Menschen verbindet. Und ich habe das Glück, mit meiner Frau eine Partnerin zu haben, die meine Visionen mitträgt. Das gibt mir Vertrauen, dass wir auch in Zukunft viel bewegen können.
Sven Wassmer Memories
Drei Michelin-Sterne, ein grüner Michelin-Stern, 18 GaultMillau-Punkte, 98 Falstaff-Punkte: Produktbewusstsein, Innovation und Saisonalität sind in Sven Wassmers Philosophie tief verankert. Im Sven Wassmer Memories, seinem Signature-Restaurant, interpretiert der Chef die Schweizer alpine Küche zu einem authentisch-naturverbundenen Gesamterlebnis.Seine Kreationen richten sich nach den Jahreszeiten und wandeln sich mit ihrem Verlauf. Das «Memories» setzt auf Surprise-Degustationserlebnisse, anstatt A-la-Carte-Menüs.
Text: Pascal Tschamper
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer, zVg
