«Depression im Alter wird oft nicht erkannt»
Seraina Häfeli-Swallow, wie häufig kommen Depressionen im Alter in Ihrer Klinik vor?
Rund die Hälfte unserer Patientinnen und Patienten in unserer Alterspsychiatrie leidet an einer Depression. Oft tritt sie nicht als Hauptdiagnose, sondern als Begleiterkrankung einer anderen psychischen Störung wie Sucht oder Demenz auf. Wir sehen eine Zunahme von Betroffenen, was jedoch vor allem mit der demografischen Entwicklung zusammenhängt. Da die ältere Bevölkerung wächst, steigt auch die Zahl alterspsychiatrischer Erkrankungen.
Weshalb werden depressive Symptome im Alter so oft übersehen?
Weil sie sich anders zeigen als bei jüngeren Menschen. Traurigkeit und Freudlosigkeit werden weniger klar ausgedrückt. Stattdessen dominieren Ängste, Unruhe oder körperliche Beschwerden. Diese Symptome werden von Betroffenen und Ärzten häufig auf Alterungsprozesse oder körperliche Erkrankungen zurückgeführt. So bleiben leichte depressive Episoden unerkannt. Schwere Depressionen treten im Alter zwar nicht häufiger auf, doch gerade die milderen Formen werden übersehen.
Welche Rolle spielen gesellschaftliche Altersbilder?
Ein erheblicher Teil unserer Gesellschaft verbindet Alter vor allem mit Abbau und Gebrechen. Diese Sichtweise verstärkt die Tendenz, psychisches Leiden nicht als Erkrankung zu erkennen. Tatsächlich nimmt die Zahl körperlicher Erkrankungen im Alter zwar zu, doch nicht jede Niedergeschlagenheit gehört zum normalen Älterwerden.
«Depressionen treten bei vielen körperlichen Leiden als Begleiterkrankung auf.»
Welche Faktoren erhöhen das Risiko besonders deutlich?
Eine Kumulation von Belastungen. Mit zunehmendem Alter steigen Begleiterkrankungen, die Mobilität nimmt ab, Lebensgewohnheiten müssen angepasst werden. Auch das Gehirn verändert sich, was das Risiko für eine Depression erhöhen kann. Hinzu kommen psychosoziale Ereignisse wie Pensionierung, der Verlust von Bezugspersonen oder der Eintritt ins Heim. All dies verlangt enorme Anpassungsleistungen.
Wie wirken sich körperliche Erkrankungen konkret aus?
Sie können Autonomie und Mobilität einschränken. Wer ein aktives Leben mit Sport oder Wanderungen geführt hat, erlebt durch eine chronische Erkrankung einschneidende Veränderungen. Freude und soziale Kontakte gehen verloren. Zudem treten Depressionen bei vielen körperlichen Leiden als Begleiterkrankung auf: bei bis zu 50 Prozent der Menschen mit Demenz und bei rund 25 Prozent der Patienten mit koronarer Herzkrankheit.
Welche Symptome sind bei Depressionen im Alter typisch?
Neben den typischen Symptomen treten bei älteren Patienten häufiger kognitive Einschränkungen auf. Das kann Angst und Verunsicherung auslösen und wird manchmal mit einer Demenz verwechselt. Doch oft bilden sich die Beeinträchtigungen zurück, wenn die Depression behandelt wird.
«Bei schweren Depressionen ist oft eine stationäre Therapie notwendig.»
Wie sieht eine wirksame Therapie aus?
Am Anfang steht eine gründliche Diagnostik, die auch körperliche und andere psychische Erkrankungen einbezieht. Wenn möglich wird ambulant behandelt. Bei schweren Depressionen, eingeschränkter Alltagsfähigkeit oder Suizidalität ist eine stationäre Therapie notwendig. Psychotherapie steht im Zentrum, unterstützt durch Fachtherapien wie Kunst, Musik oder Bewegung. Bei schweren Verläufen werden zusätzlich Medikamente eingesetzt. Entscheidend ist ein individueller Therapieplan, der zu den Bedürfnissen der Betroffenen passt.
Warum nehmen viele ältere Menschen keine Hilfe in Anspruch?
Vorurteile gegenüber Psychiatrie und Psychotherapie sind nach wie vor stark verbreitet, bei älteren Generationen sogar stärker. Vielen fällt es schwer, Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten zu finden, weil das Angebot für ältere Menschen begrenzter ist (als das für Jüngere).
Welche Bedeutung hat das soziale Umfeld?
Es wirkt auf Entstehung, Erkennen und Behandlung. Der Verlust von Kontakten kann Einsamkeit zur Folge haben, was das Risiko für Depressionen erhöht. Angehörige sind oft die Ersten, die Veränderungen bemerken, auch wenn sie diese nicht als Depression deuten. In der Behandlung ist ihr Einbezug zentral. Nur wenn sie informiert sind und die Erkrankung verstehen, können sie die Patienten wirksam unterstützen. Gleichzeitig hilft uns ihr Wissen über Familienstrukturen beim Austrittsmanagement und der Therapieplanung für die Zeit nach einem Klinikaufenthalt.
Was müsste sich im Gesundheitswesen ändern, damit Depressionen im Alter häufiger erkannt werden?
Hausärzte spielen eine Schlüsselrolle. Ältere Menschen wenden sich in der Regel zuerst an sie. Deshalb sind Fortbildungen zum Thema Depression im Alter besonders wichtig. Zugleich sollten wir die defizitorientierten Altersbilder überwinden und positive Sichtweisen fördern. In der Alterspsychiatrie erleben wir nicht nur Leid, sondern auch Lebensfreude, Würdigung des bisher Gelebten und Pläne für die Zukunft. Wir stehen für ein klares Ja zum Leben und zur Würde jedes Menschen, unabhängig vom Alter.
Text: Patrick Stämpfli
Bild: zVg
