LEADER-Special

«Regional ist das neue Bio»

«Regional ist das neue Bio»
Grace Schatz
Lesezeit: 4 Minuten

Mitten in St.Gallen hat Grace Schatz ein Paradies für regionale Lebensmittel geschaffen, das sie im «Genuss-LEADER» 2025 vorstellt. Im RegioHerz präsentieren heute über zweihundert Produzenten aus St.Gallen, Thurgau und Appenzell ihre Spezialitäten. Entstanden ist daraus eine Plattform, die kleine Betriebe stärkt und Städtern den Zugang zu echter Regionalität ermöglicht.

Grace Schatz, Sie waren Gymnasiallehrerin, bevor Sie RegioHerz gegründet haben. Wie kam es zu diesem Schritt?
Die Wurzeln liegen in der Corona-Zeit. Im März 2020 herrschte plötzlich Stillstand: leere Strassen, Homeoffice, Schockstarre. Ich unterrichtete online – und merkte gleichzeitig, dass die ersten Verlierer dieser Situation die kleinen Produzenten und Bauern waren. Ohne Märkte hatten sie keinen Absatz mehr, ihre Existenz war akut gefährdet. Gleichzeitig erzählten mir meine Tanten in St.Gallen, dass sie liebend gern beim Bauern einkaufen würden – doch ohne Auto sei das unmöglich. Da dachte ich: Bring zusammen, was zusammengehört. Produzenten mit tollen Produkten und Städter, die genau danach suchen. Viele hielten mich damals für verrückt: «Midlife-Crisis», hiess es. Aber ich entschied mich nicht gegen die Schule, sondern für etwas Neues. Ich probierte es einfach. Und siehe da: Fast fünf Jahre später sitzen wir im doppelt so grossen Laden bei einer Tasse Kaffee.

Wie war der Start für Sie persönlich?
Abenteuerlich! Ich hatte nur die Idee auf dem Papier und bin mit ihr von Hof zu Hof gefahren, habe sie Bauern erklärt – und dabei sehr viel Schnaps trinken müssen (lacht). Viele Bauern waren skeptisch: «Hast du schon Käse? Hast du schon Saft? Brauchst du mich überhaupt noch?» Kleine Produzenten dagegen, die in ihrer Freizeit Liköre, Backmischungen oder Sirup herstellen, haben sofort verstanden: Für zwei Franken am Tag bekommen sie bei uns Platz, Licht, Strom, Sichtbarkeit, Werbung – alles. Die ersten Regalmieter zu finden, war ein Krampf, aber kaum eröffnete ich, füllte sich der Laden fast wie von allein. Heute muss ich keine Klinken mehr putzen.

Sie mussten bald in grössere Räumlichkeiten ziehen.
Ja, weil es zu eng wurde. Monat für Monat kamen neue Produzenten. Irgendwann musste ich schweren Herzens «nein» sagen, weil der Platz fehlte. Gerade die Kleinen brauchen aber eine Plattform wie unsere. Heute haben wir doppelt so viel Platz, konnten die Warteliste abbauen und das Sortiment noch vielfältiger machen.

Awareness  Mattes Films  

«Gerade die kleinen Produzenten brauchen eine Plattform wie unsere.»

Welche Produkte finden die Kunden bei Ihnen?
Ein wahres regionales Schlaraffenland: je nach Saison pflückfrische Beeren aus Goldach oder Steinobst aus Egnach, Milch aus stressfreier Hoftötung, Brot aus dem Appenzell, Gemüseboxen von Biobauern, Honig von Imkern aus der Nachbarschaft, regionale Weine. Aber auch kreative Spezialitäten wie Chips aus Bier-Trebern oder Verjus aus grünen Äpfeln als Zitronenersatz. Unsere Kunden lieben es, wenn wir zu jedem Käse oder Sirup eine Geschichte erzählen können.

Gibt es Bestseller?
Im Sommer sind es definitiv die Beeren. Ganzjährig beliebt sind Milchprodukte, Fleisch und Honig. Sehr gut verkaufen sich auch die Geschenkkörbe – viele entdecken RegioHerz über ein Geschenk, das ihnen jemand gemacht hat – und bleiben uns treu.

Wer kauft bei Ihnen ein?
Das Publikum ist bunt gemischt. Junge, die sehr bewusst konsumieren und Food-Waste vermeiden wollen. Familien ohne Auto, die täglich kleine Einkäufe machen. Institutionen wie Unis oder Ämter, die ihre Referentengeschenke bei uns beziehen. Und nicht zuletzt die «edle Stadtdame», die für ihre Freundinnen ein Käseplättchen arrangiert und zu jedem Stück eine Geschichte erzählen möchte.

Am St.Galler Marktplatz gibt’s Regionales von über 200 Ostschweizer Produzenten.
Am St.Galler Marktplatz gibt’s Regionales von über 200 Ostschweizer Produzenten.

Wie wichtig ist die Nähe zu den Produzenten?
Sehr wichtig. Hinter jedem Produkt steckt ein Gesicht, eine Familie, eine Geschichte. Viele Produzenten kenne ich persönlich, weil ich bei ihnen auf dem Hof war. Wir sehen uns wöchentlich bei der Anlieferung, halten einen Schwatz. Zweimal im Jahr treffen wir uns alle zum Produzententreff – da entstehen Synergien. Diese Nähe spüren auch die Kunden, wenn wir im Laden von den Menschen erzählen, die hinter den Produkten stehen. 

Wie konsequent ziehen Sie die Regionalität durch?
Sehr konsequent. RegioHerz umfasst St.Gallen, Thurgau und Appenzell. Zürich oder Graubünden gehören schon nicht mehr dazu. Ich bin Culinarium-zertifiziert: 80 Prozent der Rohstoffe müssen aus der Region stammen. Wer das nicht erfüllt, passt nicht zu uns. Deshalb lehne ich auch Produkte ab, die nur oberflächlich regional wirken.

Viele Grossverteiler werben ebenfalls mit «regional». Was unterscheidet Sie?
Bei uns ist es kein Marketinglabel, sondern gelebte Realität. Unsere Produkte stammen aus nächster Nähe und werden nicht erst durchs ganze Land ins Verteilzentrum geschickt. Viele Produzenten arbeiten zudem nach Bio-Standards, können sich aber das teure Label nicht leisten. Mir ist Regionalität wichtiger. Darum sage ich: Regional ist das neue Bio.

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«Hinter jedem Produkt steckt ein Gesicht, eine Familie, eine Geschichte.»

Sie selbst ernähren sich fast ausschliesslich von RegioHerz-Produkten.
Weil es mir guttut. Ich habe mir eine Challenge gesetzt: nur noch Lebensmittel mit maximal fünf Zutaten. Keine endlosen E-Nummern, keine Zusatzstoffe. Das lässt sich mit unseren Produkten wunderbar umsetzen. Natürlich gönne ich mir ab und zu eine Avocado – an meinem Geburtstag oder zu Weihnachten. Aber gerade durch diese seltenen Momente geniesse ich sie umso mehr. Wenn jeder sich bei einem Lebensmittel bewusst einschränken würde, statt zu verzichten, wären wir viel nachhaltiger unterwegs.

Was fasziniert Sie am meisten an Ihrer Arbeit?
Die Kreativität der Produzenten. Nehmen wir Tomaten: Sie sind saisonal nur begrenzt verfügbar. Und trotzdem zaubern die Produzenten aus dieser Basis eine unglaubliche Vielfalt. Nicht nur ein einfaches Sugo, sondern originelle Kreationen, ob eingekocht, eingemacht, getrocknet oder verarbeitet in Gebäck oder Chips. Deshalb sage ich lieber «Veredler» als Produzenten: Sie veredeln das, was die Natur uns schenkt, zu einzigartigen, köstlichen Lebensmitteln.

regioherz.ch

Text: Pascal Tschamper

Bild: Rebekka Grossglauser

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