Im Spannungsfeld zwischen Identität und Poesie

Für Carlos Martinez ist Architektur kein Selbstzweck, sondern Werkzeug des Alltags. «Ein Projekt muss in erster Linie funktionieren und dem Nutzer dienen», erklärt er. Wirtschaftlichkeit spiele dabei allerdings immer eine Rolle – egal ob Hotel, Schule oder Gewerberäume. Entscheidend seien hier nicht nur die Bau-, sondern auch die Betriebskosten. «Wenn Mitarbeiter etwa kurze Wege haben, spart man Zeit, Personal und Geld. Das bringt mehr, als am Material zu sparen», gibt er ein Beispiel.
Auch Flexibilität sei zentral, damit Gebäude nicht abgerissen, sondern bei veränderter Nutzung einfach umgenutzt werden können. Ebenso unverzichtbar ist für Martinez die Gestaltung: «Sie verleiht Identität, stärkt das Image und steigert das Wohlbefinden. Daraus entstehen Konzepte, die besonders und einzigartig sind, ohne höhere Kosten zu verursachen.»
Arrivée in Horn – Ankommen am Seeufer
Ein Beispiel ist das Projekt Arrivée in Horn. Das rare Seegrundstück verlangte hohe Dichte, um wirtschaftlich zu sein. «Gleichzeitig haben wir eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft», sagt Martinez. «Der Fussgänger oder Autofahrer soll den See sehen und spüren können.» Viele Mitbewerber planten einen Längsriegel entlang der Strasse – maximale Dichte, aber ohne Sicht. Martinez entschied sich anders: 80 Prozent der Wohnungen haben Seeblick, wenn auch nicht alle frontal. «Wir planten nicht das dichteste Projekt, aber die lebenswertesten Wohnungen.» Die Kehrseite: Exklusivität. «Solche Grundstücke sind zwangsläufig der finanziellen Elite vorbehalten», räumt er ein. «Doch meine Selbstständigkeit begann mit günstigem Wohnen für junge Familien. An diesem Ort wäre sozialer Wohnungsbau fehl am Platz.»
La Nave – zukunftsorientierte Bildungsarchitektur
Ganz anders die Schule La Nave in Buchs: Ab der Kellerdecke verbaute das Projektteam konsequent Holz – sogar im Liftschacht. Für das Untergeschoss nutzte man CO₂-bindenden Zirkulitbeton. Die Raumstruktur erinnert an einen Baum; Lernstufen wachsen nach oben, zweigeschossige Räume greifen ineinander. Im Zentrum liegt ein Auditorium mit Bibliothek, das sich zum Eingangsbereich öffnet. Wer ein Zimmer verlässt, muss über Brücken oder offene Flächen durch diese kommunikative Zone. Begegnung und Interaktion sind so Teil der Gebäude-DNA. Weil die Ausnützung beschränkt war, entstanden viele gedeckte Aussenräume – auch auf dem Dach. «Wir wollten durch den Einbezug der Aussenflächen zusätzlichen Raum schaffen und ermöglichen, dass Lernen auch im Freien stattfinden kann.»
Die Fassade erzählt ebenfalls eine Geschichte: Unregelmässige Holzschindeln stehen für die Vielfalt der Kinder. «Alle sind verschieden – und doch braucht es alle, um das Ganze zu fügen.» Solche poetischen Botschaften lässt Carlos Martinez gerne einfliessen, wie etwa auch bei der Siedlung Prosa, die mit 13 Bäumen und sieben Doppelhäusern auf den St.Galler Klosterplan verweist.
Haus der Freunde – Sinnlichkeit aus Erde
In der Überbauung «Haus der Freunde» in Buchs setzte Martinez auf Lehm, Holz und Recyclingbeton. «Jedes Material hat Eigenheiten. Man muss sich hineindenken, um es für heutige Bedürfnisse zu nutzen», erläutert er. Lehm sei besonders sinnlich und er speichere Wärme, nehme Feuchtigkeit auf und sorge für ein angenehmes Raumklima. Durch Mischen verschiedener Erden liesse sich ein warmer Ausdruck erzielen. Trotz technischer Hürden überzeugte das Resultat mit der Prämisse «ursprüngliche Materialien in zeitgemässer Form».
Casa Würth – ein Massanzug
Beim Einfamilienhaus Casa Würth in Berneck zeigt sich Martinez’ Detailfreude. «Ein Einfamilienhaus ist so komplex wie ein grosser Bau», sagt er. «Aber hier entwirft man den persönlichen Lebensraum einzelner Menschen – wie einen Massanzug.» Er stellt viele Fragen: Wer steht zuerst auf? Wie soll das Bad aussehen, die Ankleide, der Stauraum? «Solche Details machen ein Haus bequem.» Architektur entstehe im Dialog, am Ende entscheide der Bauherr. «Wir begleiten sie mit Erfahrung.»
Identität und Atmosphäre – das Unsichtbare sichtbar machen
Atmosphäre beginnt für Martinez mit Proportionen und Licht. Dann folgen Oberflächen und Materialien. «Alle Materialien können sinnlich wirken. Entscheidend ist, wie man sie bearbeitet und beleuchtet.» Gebäude vergleicht er mit Charakteren: Das Rathaus ist der Bürgermeister, die Bank der Bankier. «Ein Bau muss zeigen, was in ihm geschieht und wer ihn prägt. So entsteht Identität.» Ein Beispiel ist die Stadtlounge St.Gallen: «Wir haben es geschafft, einen ehemals gemiedenen Platz zu einem lebendigen Treffpunkt zu machen. Das Schöne ist meist einfach und prägnant.»
«Alle sind dafür, solange es nicht im eigenen Quartier geschieht.»
Architektur mit einem Versprechen
Verantwortung ist für Carlos Martinez ein Schlüsselwort. «Unsere Werke prägen Städte und Quartiere, beeinflussen Geschmack und Leben.» Besonders bewusst wird ihm das in der Heimat seiner Frau Fatima, im spanischen Asturias. Dort prägt eine kleine Fussgängerzone das Leben. «Man muss sich dort nicht verabreden, das Sozialleben findet einfach auf der Strasse statt.»
Auch Verdichtung ist für ihn notwendig. «Dichte Städte sind günstiger im Unterhalt, brauchen weniger Infrastruktur.» Doch Akzeptanz sei schwierig: «Alle sind dafür, solange es nicht im eigenen Quartier geschieht.» Ebenso beschäftigt ihn leistbares Wohnen seit jeher. «1993 haben wir unser Büro gegründet, um Wohneigentum für junge Familien zu schaffen. Die Reihenhaussiedlung Sparta in Widnau bot viel Raum für wenig Geld, was möglich war, weil wir Überflüssiges wegliessen und unkonventionelle Lösungen suchten.»
Heute sei es schwieriger, die Kosten tief zu halten. «Die Vorschriften geben vieles vor – oft teure Dinge, die man nicht reduzieren darf», verdeutlicht Martinez. Das führe zu Überregulierung. «So haben wir ein System geschaffen, das günstigen Wohnraum fast verunmöglicht. Die Politik muss dringend gegensteuern.»
Apropos Politik: Architektur könne deren Probleme nicht allein lösen, sie aber wesentlich beeinflussen – negativ wie in den Pariser Banlieues oder positiv wie in Medellín, wo Bibliotheken als soziale Treffpunkte ganze Quartiere verwandelten.
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Preise – Nebensache mit Wirkung
«Natürlich freue ich mich über Auszeichnungen», sagt Martinez. «Sie motivieren und zeigen, dass man richtig lag.» Besonders bewegte ihn eine Anerkennung in Oviedo, seiner asturischen Heimat. «Diese Ehrung im traditionsreichen Hotel Reconquista zu erhalten, wo selbst die Prinzessin von Asturien Preise vergibt, war ein stolzer Moment.» Doch für ihn bleiben Preise Nebensache: «Gute Architektur entsteht durch solide Auftraggeber und Einsatz – nicht wegen Trophäen.»
Die persönliche Handschrift
Seine Projekte in unterschiedlichen Kompetenzfeldern verbindet ein roter Faden. Sie reagieren sensibel auf Ort und Auftraggeber. «So gestalten wir Bauten, die in Materialität und Ausdruck variieren, aber immer eine klare Haltung und eine freundliche Atmosphäre vermitteln.» Holzbau bleibt ein konstantes Thema: Schon 1995 experimentierte Martinez mit vorfabrizierten Elementen, realisierte eine der ersten Brandmauern in Holz. Später folgten Säntisparkhotel, Revierhotel Lenzerheide, La Nave, aktuell ein Projekt in Romanshorn. «Ich mag Abwechslung. Wirtschaftlicher wäre monotones Bauen mit gleichbleibenden Baustoffen. Aber das wäre weniger spannend.»
Welches Projekt ihn am meisten berührt? «Jedes ist besonders, denn jede Umsetzung verlangt, Identität und Charakter sichtbar zu machen», sagt er. Carlos Martinez baut nicht laut, sondern mit fokussierter Beständigkeit. Gemeinsam mit seinem Team entwickelt er Architektur, die funktional und wirtschaftlich überzeugt, zugleich aber poetisch wirken darf. Er schafft Lebensräume, die sich verändern können, Orte, die Menschen verbinden, und Bilder, die im Gedächtnis bleiben.
Text: Stephan Ziegler
Bild: zVg