Auf der Jagd – für die Liebeswerkstatt
Ein Sommerabend im August, Bahnhof Amriswil: Ein Geländewagen rollt vor, am Steuer Renato Mariana. Der Jäger und erste Schweizer Wild-Sommelier wirkt bodenständig und fokussiert. Er kommt nicht mit der Pose des Abenteurers, sondern mit einer Ruhe, die sich durch den ganzen Abend ziehen wird. Von hier geht es hinaus zur Jagdhütte Sommeri, wo der Jagdaufseher grüsst, dann bis zu einer Lichtung. Der Wagen bleibt zurück, die Schritte werden leiser, bis nur noch das Rascheln des Grases zu hören ist – gesprochen wird im Flüsterton.
Der Hochsitz steht unweit des Waldrands auf offenem Feld. Dort nimmt Mariana Platz. Für den ungeschulten Blick geschieht dann wenig. Wer mit einem erfahrenen Jäger wie Mariana oben sitzt, erlebt das Gegenteil: keine Sekunde ist langweilig – jedes Knacken, jedes Geräusch, jeder Schatten hat Bedeutung. Mariana erklärt, was im Wald passiert, deutet Geräusche und Bewegungen, liest die Natur wie ein aufgeschlagenes Buch.
Jäger – mit Verpflichtung
Jäger wird man in der Schweiz nicht von heute auf morgen. Die Ausbildung dauert ein bis zwei Jahre, umfasst Wildkunde, Recht, Schiesspraxis und Prüfungen. «Für Quereinsteiger ist es ein harter Weg», betont Mariana. Trotzdem gibt es kaum Mangel an Jägern. In den Ostschweizer Kantonen – St.Gallen, Thurgau und den beiden Appenzell – erlangen im Jahr bis zu hundert Personen pro Kanton einen Fähigkeitsausweis. In der Schweiz gibt es rund 30’000 aktive Jäger – die Zahl ist stabil, auch wenn sie kantonal schwankt. Die meisten Abschusspläne werden erfüllt, Ausnahmen bestätigen die Regel.
In Graubünden oder im Wallis gilt die Patentjagd. Jäger lösen ein befristetes Patent, das sie während definierter Jagdzeiten in festgelegten Gebieten zum Abschuss bestimmter Wildarten berechtigt. Der Staat bleibt verantwortlich für Abschusspläne und Hege, die Wildhut kontrolliert die Einhaltung.
Andere Kantone wie St.Gallen und Thurgau kennen die Revierjagd. Sie verpachten Reviere langfristig an lokale Jagdgesellschaften. Diese sind für Hege, Pflege und Abschussplanung zuständig und tragen viel Eigenverantwortung. Die Mitglieder organisieren Jagd und Wildbestandskontrolle, finanzieren den Unterhalt und erfüllen staatliche Vorgaben. Sie sind rund um die Uhr an Ort und Stelle bei Wildunfällen, Wildschäden und anderen Aufgaben. So garantiert die Revierjagd eine enge Bindung zwischen Jägerschaft und Natur. «Ein Revier kann bis 40’000 Franken jährlich kosten», weiss Mariana.
Leidenschaft mit Philosophie
Mariana geniesst den spätsommerlichen Abend am Waldrand. Ziel scheint weniger ein Abschuss als vielmehr, eine Leidenschaft zu leben. Der aus der Lebensmittelbranche stammende Unternehmer gründete vor einigen Jahren die «Liebeswerkstatt». Das innovative Projekt konzentriert sich auf Spezialitäten aus heimischem Wild. Wichtig ist ihm: Qualität vor Profit, Liebe zum Produkt vor schnellen Geschäften. Dafür kauft er von einem Netzwerk von Jägern Tiere zu.
Das Wild für die Frischfleisch-Teilstücke muss in den Kantonen Thurgau, St.Gallen, Schaffhausen, Glarus oder Zürich mit Kugelschuss erlegt sein – ohne langes Nachsuchen – und darf nicht aus Treibjagd stammen. Damit beliefert die Liebeswerkstatt Fachgeschäfte in der Region, hochwertige Restaurants und private Geniesser. Der Online-Shop bietet ganze Tiere, küchenfertige Portionen oder fixfertiges Wildpfeffer an. Zum Sortiment gehören Wildschwein-Coppa, Schüblig oder Pantli vom Hirsch ebenso wie innovative Kreationen – etwa Hirsch-Momos.
Was bislang vor allem Jägern vorbehalten war oder nur zur Herbstzeit in der Gastronomie genossen werden konnte, will die Liebeswerkstatt ganzjährig verfügbar machen. Wildbret bietet unzählige Möglichkeiten: «Ob ein Rehschnitzel, eine Lasagne aus Wildschweinfleisch, ein Reh-Tatar oder ein Hirschsalsiz für zwischendurch – Wildfleisch lässt sich genauso einsetzen wie Rind-, Kalb- oder Schweinefleisch», erklärt Mariana. In Bezug auf Fleischqualität, Nährwertbilanz und ökologischen Fussabdruck sei Wild klarer Sieger.
Als Wild-Sommelier bietet Mariana Wild-Kurse an. Er verkostet Fleisch wie andere Wein oder Käse, erkennt Nuancen, spricht über Textur, Reifung und Herkunft. Seine Haltung bleibt konsequent: «Wer Qualität schätzt, ist willkommen.» 2023 wurde Mariana zusammen mit seiner Geschäfts- und Lebenspartnerin Eliane Widin als «Culinarium-Königspaar» ausgezeichnet. Culinarium ist das Ostschweizer Gütesiegel für geprüfte Regionalität und Nachhaltigkeit.
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Was bislang vor allem Jägern vorbehalten war, will die Liebeswerkstatt ganzjährig verfügbar machen.
Wildfleisch – eine unterschätzte Ressource
Nur rund 15 Prozent des in der Schweiz konsumierten Wildfleischs stammt tatsächlich von hier. Der Grossteil wird importiert – Reh aus Österreich, Hirsch aus Neuseeland, Wildschwein aus Osteuropa. Im Schnitt verzehren die Schweizer etwa 480 Gramm Wild pro Jahr. In Deutschland und Österreich liegt der Wert bei rund 1,3 bis 1,5 Kilogramm pro Kopf. «Wir haben eine wertvolle Ressource direkt vor der Haustür, es gibt wenig davon, aber wir könnten sie besser und wertschätzender nutzen», sagt Mariana. «Vieles ist noch un- oder nur zum Teil genutzt – wie Felle und Leder. Viel wird verbrannt, das tut weh. Oder der Lecker und die Bäggli eines Wildschweines oder Hirsches – meist landen sie in der Entsorgungsstelle.»
Wild bietet eine Alternative zur industriellen Tierhaltung: kein Antibiotikaeinsatz, keine Mast, sondern Fleisch von Tieren, die frei gelebt haben. «Es ist schade, dass die Schweizer Gesetzgebung keinen Unterschied zwischen freilebendem Wild, Zucht oder gefarmten Wild macht. Kunden haben kaum eine Chance, den Unterschied zu erkennen. Die Hirschfleischqualität aus Neuseeland ist hochstehend, aber stammt aus riesigen Farmen. Das ist mir ein Dorn im Auge, inklusive dem unverhältnismässigen Transportweg», so Mariana.
Unterschiede in Alter, Jahreszeit und Reifung beeinflussen die Fleischqualität. «Ein Hirschkalb, das im Winter seine erste Winternahrung aufgenommen hat, schmeckt anders als eines, das im August erlegt wurde», erklärt Mariana. Und er plädiert dafür, das ganze Tier zu verwerten – nicht nur Rücken, Rücken und Filets. «Respekt vor dem Tier heisst auch, alles zu nutzen.»
«Wir haben eine wertvolle Ressource direkt vor der Haustür, aber wir könnten sie besser und wertschätzender nutzen.»
Zufrieden – ohne Schuss
Die Sonne sinkt, die Vögel verstummen, der Wald scheint den Atem anzuhalten. Mariana nimmt eine kleine Pfeife zur Hand, die den Laut eines Rehkitzes imitiert. Minutenlang bleibt es still, dann plötzlich Bewegung: Zwei Rehe strecken vorsichtig ihre Häupter aus dem Gebüsch und springen schliesslich auf die Wiese. Doch es sind Geissen, weibliche Tiere, die um diese Zeit Kitze führen und nicht erlegt werden dürfen.
Der Blick bleibt auf den Waldrand gerichtet, in der Hoffnung auf einen Bock, der den Geissen nachziehen könnte. Doch an diesem Abend zeigt sich keiner. Das Gewehr bleibt ungenutzt. Mariana lässt sich keine Enttäuschung anmerken – ein paar Stunden am Waldrand zaubern Zufriedenheit in sein Gesicht. Die Spannung und das Abwarten machen den Abend lohnenswert – auch wenn kein Schuss fällt, sehr zur stillen Erleichterung seiner Begleiter. Jagd, so wird hier deutlich, heisst nicht in erster Linie Beute oder Trophäe, sondern Begegnung mit der Natur – und manchmal auch das bewusste Aushalten von Leere. Beobachten, verstehen – das ist die Essenz. «Es zählt immer der Respekt vor der Kreatur», betont Mariana. «Er steht am Anfang und am Ende.»
Renato Mariano ist Jäger, Unternehmer und Gründer der «Liebeswerkstatt». Nach Stationen in diversen Unternehmen entschied er sich für die Selbstständigkeit – mit Fokus auf Qualität, Ethik und Leidenschaft. Als erster Wild-Sommelier der Schweiz absolvierte er seine Ausbildung in Deutschland. Dort lernte er, Wildfleisch sensorisch zu beurteilen. Seine Mission ist es, den Konsumenten die Vielfalt und Qualität von Wild näherzubringen.
Mariana ist gefragter Gesprächspartner in den Medien. Er erklärt Jagd nicht als blutiges Handwerk, sondern als verantwortungsvolles Tun im Einklang mit Natur und Tier. «Ich will zeigen, dass Wild kein Nischenprodukt ist, sondern ein wertvoller Teil unserer Esskultur», sagt er. Seine Liebeswerkstatt versteht er als Plattform für Genuss, Aufklärung und Begegnung – mit Wild, mit Menschen, mit Werten.
Text: Pascal Tschamper
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer, zVg
