Marc Aurel und die Zerstreuung

Text: Louis Grosjean (Bild), Partner altrimo
Unternehmer sind Zehnkämpfer. Aufträge akquirieren, Projekte umsetzen, Qualität sicherstellen, Unternehmen weiterentwickeln, Mitarbeitende führen und noch vieles mehr: Der Alltag ist abwechslungsreich. So spannend dieser ständige Spagat ist, so aufreibend kann er sein.
Hinzu kommt, dass neben dem eigenen Unternehmen weitere Anspruchsgruppen Zeit und Energie verlangen: Familie, Freunde und vielleicht weitere Engagements, wie Militärdienst, Politik usw.
Als ob dies nicht genug wäre: Wir sind seit einigen Jahren mit einer Vielzahl an Informationskanälen konfrontiert. E-Mail, Social Media, Messenger Dienste und weitere Hilfsmittel erhaschen unsere Aufmerksamkeit tausend Male am Tag: überall, jederzeit.
Die zunehmende Zerstreuungsgefahr
Das führt zu folgender Feststellung. Zu jedem Zeitpunkt könnte der Unternehmer hunderten Tätigkeiten nachgehen: Die Potenzialität seines Handelns ist hoch und nimmt mit dem technologischen Fortschritt stetig zu. Dem gegenüber stehen seine menschlichen Einschränkungen: Unsere kognitiven Fähigkeiten lassen grundsätzlich nur eine Beschäftigung auf einmal zu. Und unsere Tageszeit ist nicht beliebig dehnbar. Unsere Möglichkeiten sind und bleiben begrenzt.
Die Gefahr der Zerstreuung ist gross. Die Kunst liegt in der klugen Wahl der nächsten Tätigkeit, in der sinnvollen Einteilung der beschränkten eigenen Ressourcen.
Marc Aurels guter Rat von damals ...
Ich war an diesem Punkt meiner Überlegungen angelangt, als ich kürzlich folgende Stelle in Marc Aurels Selbstbetrachtungen las:
«Zerstreuen dich etwa die Aussendinge? Gönne dir vielmehr Musse, deine Kenntnisse auf nützliche Weise zu erweitern, und gib das Umherschweifen auf. Nimm dich indes auch vor der anderen Verirrung in Acht. Es gibt nämlich auch Toren, die sich mit vieler Geschäftigkeit ihr ganzes Leben hindurch abmühen, dabei aber kein Ziel vor Augen haben, worauf all ihr Dichten und Trachten ganz und gar gerichtet wäre.»
Marc Aurel, der römische Philosophenkaiser (121-180 n. Chr.), musste es wissen. Die Parther im Osten, die Germanen im Norden, die antoninische Pest, die Tiberüberschwemmung waren einige der Herausforderungen, die er meistern musste. Als Alleinherrscher hatte er zwar weder Whatsapp noch E-Mails, wohl aber tausend potenzielle Beschäftigungen und Diener, die ihm Entscheidungsthemen unterbreiteten. Auch er war akut «zerstreuungsgefährdet».
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... und was er mir heute nützt
Zwei Hinweise lassen sich aus Marc Aurels Zitat ableiten.
Erstens ist Zerstreuung durch Fokussierung auf das stetige Lernen zu bekämpfen. Es gibt Tage (besonders vor Weihnachten), wo Informationen und Aufträge quasi im Minutentakt auf einen prallen. Deren Verarbeitung ist zermürbend, und nimmt mit dem Stress qualitativ ab. Regelmässig Reflexionsphasen einzuschalten, durchaus auch mit Gleichgesinnten, ist daher ratsam. So lernt man dazu.
Zweitens ist die ständige (Über-)Beschäftigung kein lohnenswertes Ziel. Bei aller ethischen Hochachtung für Arbeitsamkeit: Wenn ich viel arbeite und dabei die Menschen um mich unglücklich mache, stimmt etwas nicht. Vielmehr sollte mein Handeln als Leader qualitativ und zielkongruent sein. Der Aufruf lautet: Mut zur Fokussierung!
Als Fortsetzung von Marc Aurels obiges Zitat rufe ich mich diesen alten Grundsatz der Selbstführung in Erinnerung: Jeden Tag vorgängig beurteilen, welche Tätigkeit heute die wichtigste wird. Und dann die volle Energie auf diese eine Tätigkeit ausrichten. Wenn diese mir gelingt, war der Tag erfolgreich – egal, in der Sprache Marc Aurels, wie viele weitere «Aussendinge» mich sonst noch «zerstreut» haben.