Gast-Kommentar

Sein und Schein

Sein und Schein
Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.)
Lesezeit: 3 Minuten

Rekrutierungsprozesse sind oft mehr Schein als Sein. Wir sehen die Qualifikationen, aber nicht die Werte. Wie Aristoteles die Tugenden in die Mitte seiner Moralphilosophie stellte, sollten wir die Werte in die Mitte unserer Rekrutierungsprozesse setzen, ist Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie» überzeugt.

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Der Übergang vom Fachkräftemangel zum Arbeitskräftemangel ist in vollem Gange. Gemäss einem NZZ-Artikel vom November 2024 fehlen der Schweiz 2035 rund 460'000 Arbeitskräfte. Grund genug, um sich als Leader zu fragen, wie man an die richtigen Mitarbeiter herankommt.

Es fängt mit der Personalgewinnung an. Ein sehr erfahrener Manager mit über 500 Rekrutierungen in seiner Karriere sagte mir einst: Bei einem perfekt ausgestalteten Rekrutierungsprozess kommst du nicht darum herum, dass rund jede fünfte Rekrutierung misslingt. Die Quote ist wie eine Glasdecke. Bei einem nicht optimalen Rekrutierungsprozess kann sie sich erhöhen, aber senken kannst du sie nicht.

Nun, die meisten Bewerbungsprozesse sind recht kurz und bleiben oberflächlich. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer können sich (zu) gut verkaufen, ohne dass die andere Seite es merkt. Schein anstatt Sein. Leader tun daher gut daran, an ihrem Rekrutierungsprozess zu arbeiten, denn Fehlbesetzungen sind teuer.

Die passende Chemie kommt von geteilten Werten

Klassische Bewerbungsdossiers geben recht gut über «Hard Facts» Auskunft: Aus- und Weiterbildung, Berufserfahrung und «Hard Skills» sind ausgewiesen. Die Überprüfung der Angaben im Bewerbungsdossier ist normalerweise keine grosse Herausforderung.

Viel wichtiger und schwieriger zu überprüfen sind die «Soft Skills» und die Frage, ob die Chemie zwischen Bewerber und Betrieb passt. Aus einer passenden Chemie folgen weitere wertvolle Bindungselemente zwischen Arbeitnehmer und Betrieb: Loyalität, Gemeinschaftsgefühl, Resilienz. Umgekehrt gilt: Fehlt die Chemie, so kommt es früher oder später zur Trennung.

Meine These lautet wie folgt: Die passende Chemie kommt von geteilten Werten. Vielen Unternehmen – besonders KMU – fehlt eine explizite Analyse der betriebseigenen Werte. Ist mein Unternehmen wie eine Familie? Ist es prozess- und vorschriftenorientiert? Oder machtorientiert? Steht Leistung im Vordergrund? Oder Harmonie? Wie ist der Stellenwert von Innovation? Eine gute Orientierung für diese Selbstdiagnose gibt übrigens die «Culture Map» von «The Culture Institute» – die vorerwähnten Fragen habe ich aus deren Modell abgeleitet.

Abacus  Schöb  

Tugendethik

Philosophisch orientiert sich diese werteorientierte Analyse an der Tugendethik von Aristoteles. Dieser Philosoph aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. postulierte ein Dutzend Tugenden: Tapferkeit, Grosszügigkeit, Besonnenheit, Sanftmut, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Gerechtigkeit sind einige davon. Das Streben nach diesen Tugenden macht nach Aristoteles den Menschen zu einem besseren Wesen.

Einige Tugenden lassen sich in die Sprache der Unternehmenskultur übersetzen. Aufrichtigkeit führt zu Innovation. Sanftmut und Grosszügigkeit erzeugen Harmonie. Gerechtigkeit ist in einer Familie zentral. Tapferkeit dient der Macht.

Werte im Rekrutierungsprozess

Angesichts dieser schlecht untersuchten «Soft Skills», der Notwendigkeit einer passenden Chemie und der Relevanz von gemeinsamen Werten sehe ich diese Werteanalyse im Rekrutierungsprozess als einen zentralen Erfolgsfaktor. Die Frage ist, wie sie sich umsetzen lässt.

HR-Spezialisten stellen dafür ein ganzes Arsenal an Werkzeugen wie Persönlichkeitstests, Assessments usw. zur Verfügung. Gewisse Instrumente bringen beträchtlichen Aufwand mit sich. Nicht alles lässt sich in einem KMU umsetzen.

Ich überlege mir persönlich, folgende Themen in den Rekrutierungsprozess zu integrieren:

  1. Warum nicht den Bewerber fragen, welche Unternehmenskultur er sich wünscht, z. B. anhand der zuvor erwähnten Tugenden oder Werte? Überlappt sich sein Wunsch mit der Selbstanalyse des Unternehmens, so ist man einen guten Schritt vorwärtsgekommen.
  2. Die Überprüfung mittels Persönlichkeitstest kann diese Analyse plausibilisieren und vertiefen.
  3. Ein Mittagessen mit dem zukünftigen Team kann – das Einverständnis aller vorausgesetzt – die persönliche Chemie bestätigen oder Hinweise auf Schwierigkeiten liefern.
  4. Bei all dem ist Aufrichtigkeit (eine aristotelische Tugend!) zentral. Viele Bewerber neigen verständlicherweise dazu, keine Schwächen im Bewerbungsprozess offenzulegen. Gerade diese Offenlegung wird jedoch gesucht. Um sie zu provozieren, sollte der Leader mit gutem Beispiel vorangehen und seine Schwächen sowie mögliche Kulturprobleme im Betrieb sehr offen im Bewerbungsprozess ansprechen. Das dadurch geschaffene Vertrauen soll den Bewerber dazu bringen, sich frei zu äussern.

Ein Rekrutierungsprozess ist anstrengend. Die Versuchung ist gross, ihn möglichst rasch abschliessen zu wollen. Die Gefahr lautet dabei: Oberflächlichkeit. Mehr Schein als Sein. Gerade das Gegenteil macht Sinn!

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