Gast-Kommentar

Führen in der Gemeinschaft – oder führen in der Freiheit?

Führen in der Gemeinschaft – oder führen in der Freiheit?
Louis Grosjean
Lesezeit: 3 Minuten

Leader in einer starken Gemeinschaft zu sein, ist nicht einfach. Es braucht eine Geduld, die viele nicht haben. Daher erleben wir immer wieder, dass Leader eine Organisation verlassen und «ihr eigenes Ding» machen. Louis Grosjean fragt sich in unserer Serie «LEADER-Philosophie», was das über ihren Führungsstil aussagen kann.

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

Wer in einer Gemeinschaft agiert, ist nicht frei. Er muss Rücksicht auf die anderen Mitglieder der Gemeinschaft nehmen. Das äussert sich in der Schulklasse, im Verein, im politischen Kontext und natürlich bei der Arbeit. Zu den starken Gemeinschaften zählen nämlich auch Unternehmen mit starkem Familiencharakter, hohem Harmoniebedürfnis oder ausgeprägtem Zweckbewusstsein (Purpose). Gemeinschaft bringt Konflikte, Hierarchie, Kommunikationsbedarf usw. mit sich. Gemeinschaft schränkt die Freiheit ein.

Ob eine Führungsperson eher die Gemeinschaft oder die Freiheit sucht, wird von ihrem Charakter abhängen. Ich werte es nicht. Ich stelle allerdings fest: Die berufliche Welt der Selbständig-Erwerbenden ist voll von Leuten, die ihre Freiheit höher gewichten als die Gemeinschaft. Sie haben oft Gemeinschaften den Rücken gekehrt. Warum?

Macht ist gemeinsames Handeln

Vor drei Jahren habe ich bereits Artikel zu Hannah Arendts Konzeption von Macht und Gewalt geschrieben. Ich greife diese Konzeption heute wieder auf, 50 Jahre nach dem Tod dieser politischen Philosophin.

Nach Arendt ist Macht die Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzuschliessen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Gewalt ist hingegen ein Werkzeug zur Erreichung bestimmter Ziele gegen den Willen der Betroffenen. Macht und Gewalt schliessen sich grundsätzlich aus, das heisst, Gewalt unterminiert die Macht, während gut etablierte Macht keiner Gewalt bedarf.

Man sieht sofort: Macht ist nach Arendt die Wirkung des Leaders in und mit der Gemeinschaft. Wer seinen Willen jedoch gegen die Gemeinschaft oder Teile davon durchsetzen will, muss auf psychische Gewalt zurückgreifen. Was heisst das für die Führungsphilosophie?

Mobilisierung oder Durchsetzung

Wer den Machtbegriff nach Arendt in der Praxis lebt, versucht, Menschen zu mobilisieren. Er versucht, sie zu überzeugen. Er strebt danach, dass Herz, Kopf und Hand seiner Mitmenschen in der Organisation in die gleiche Richtung fühlen, denken und handeln. Diese Art von Leadership hebt den Gemeinschaftsgedanken hervor. Sie sucht die Wahrheit in der Konfrontation von gegensätzlichen Argumentationen. Sie setzt sich mit den Beweggründen der Mitmenschen auseinander, um zu verstehen, wohin die Energie fliesst und wie intrinsische Motivation erzeugt werden kann. Mobilisierung braucht sehr viel Geduld.

Durchsetzung hingegen bedeutet, mit Ur-Emotionen wie Furcht, Neid oder Gier zu operieren. Der bewusste Einsatz dieser Emotionen lenkt das Verhalten der Mitmenschen. Bei Bedarf werden zweckorientierte (aber nicht unbedingt gesinnungsbasierte) Allianzen gebildet. Letztlich geht es darum, seine eigene Überzeugung in ein Handeln der Mitmenschen umzuwandeln, oft mittels extrinsischer Motivation. Das hindert die durchsetzungsorientierte Person nicht daran, das Gemeinwohl zu suchen; sie sucht es allerdings nach ihrer persönlichen Überzeugung und setzt diese durch.

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Der Leader-Typ und die Organisation

Mir erscheint es zentral für einen Leader, dass er reflektiert, wie geduldig, gemeinschaftsfähig und dennoch beharrlich er ist. Es braucht diese Qualitäten, um in starken Gemeinschaften Erfolg zu haben und Dinge voranzutreiben.

Der freiheitsliebende, ungeduldige, eigensinnige Leader wird es in solchen starken Gemeinschaften schwerer haben. Ihm wird die Geduld fehlen, die Mitmenschen mitzunehmen. Für ihn gibt es zwei Wege. Er kann eine Führungsrolle in einer Organisation übernehmen, in welcher Durchsetzung funktioniert. Diese Art von Organisation wird eher eine zweckmässige Ansammlung von Individuen als eine Gemeinschaft sein. Alternativ – und das tun eben viele – macht er sich selbstständig und agiert allein.

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