Das Zellteilungsprinzip

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo
Wachstum erweist sich als unverzichtbar zur mittelfristigen Aufrechterhaltung unseres Wohlstandes. So muss eine Volkswirtschaft wachsen, um ihre sozialen Versprechen einzuhalten. Ein Unternehmen sollte auch wachsen. Oder nicht? Aber wie wachsen? Da, meine ich, können wir von der Biologie, der Paleontologie und der Geschichte lernen.
Wachstum gegen Stillstand
Lebensformen streben nach Überleben. Sie verwenden dafür unterschiedliche Strategien. Die eine lautet «mach dich unbesiegbar». So haben sich die Dinosaurier entwickelt, mit ihren auf Angriff und Verteidigung geformten Körpern. Die andere Strategie lautet «Vermehrung». Das ist z. B. bei Ratten oder Fischen so: Durch viele Sprösslinge wird die Überlebensfähigkeit der eigenen Gene erhöht.
Was Lebensformen aber nie machen – bis auf den Homo Sapiens ab Erfindung der Kontrazeption – ist, ihr Wachstum künstlich zu drosseln, den Stillstand oder gar den Rückgang anzustreben. Das widerspricht dem Lebenstrieb.
Stellt man ein Unternehmen – immerhin ein Konglomerat von zusammenwirkenden Menschen – einer Lebensform gleich, lautet die erste Lehre aus der Natur: Stillstand ist keine Option.
Formen des Wachstums
Wachstum kann verschiedene Richtungen einschlagen: organisches Wachstum (wie bei den Dinosauriern), Evolution (wie beim Homo Sapiens) oder Vermehrung (wie bei den Ratten). Je nach Situation ist die eine oder andere Strategie angezeigt. Die Dinosaurier hatten vor 65 Millionen Jahren die falsche Strategie (organisches Wachstum). Sie waren nicht flexibel genug, sich den plötzlich veränderten Umständen anzupassen. Ratten hingegen konnten dank Vermehrung überleben.
Was bedeuten diese Strategien für das eigene Unternehmen?
Von Natur und Geschichte lernen
Interessanterweise setzen die meisten Unternehmer auf organisches Wachstum. Das eigene Unternehmen soll grösser werden. Ich behaupte: Diese Wahl wird vielfach nicht bewusst getroffen, sondern ergibt sich aus dem betrieblichen Erfolg im Verlauf der Jahre. Irgendwann hat aber das Unternehmen zu viel Substanz oder wird zu verkrustet, um sinnvoll übergeben oder entwickelt zu werden. Das ist problematisch – s. hierzu meinen Artikel zum Strukturprinzip.
Natürlich setzen auch viele Unternehmer auf Evolution. Die stetige Verbesserung ist ein lohnenswertes Ziel. Das setzt aber die Bereitschaft zu irren und nochmals zu probieren voraus. Ich habe in meiner Laufbahn viele Menschen kennengelernt – auch Unternehmer – die unfähig sind, das Scheitern in Kauf zu nehmen. Diese Menschen machen Unternehmen gleichsam evolutionsunfähig.
Es bleibt die Vermehrung. Diese Strategie wird selten gewählt, weil sie bedeutet, das eigene Unternehmen irgendwann zu zerschlagen und die Verselbständigung der einzelnen Einheiten. Aber eigentlich sollte dies das Natürlichste der Welt sein. Denn die Natur zeigt, wie es geht: Eltern können nicht ewig ihre Kinder protektieren und beherrschen. Irgendwann müssen sie loslassen. Aus dem Alten entsteht Neues, das zwar eine Fortsetzung des Alten ist, aber etwas anderes und Eigenständiges. Das ist das Zellteilungsprinzip.
Nicht nur die Natur lehrt uns dieses Prinzip. Auch die Geschichte enthält ein sehr schönes Beispiel.
Im antiken Griechenland konnten die Städte nicht allzu gross werden, weil das Land wenig Nahrung hergab. Daher begannen die Griechen, Kolonien zu gründen. Erreichte eine Stadt eine gewisse Grösse, ging ein Teil der Stadtbevölkerung unter der Leitung des sogenannten Özisten fort und gründete eine neue Stadt – eine Kolonie. So entstanden Neapel, Syrakus und Marseille. Und so strahlte die griechische Kultur weiter über das griechische Kernland hinaus aus.
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Das Zellteilungsprinzip im eigenen Unternehmen umsetzen
Ich plädiere für das Vorleben und die Umsetzung des Zellteilungsprinzips. Unternehmen sollen wachsen. Sie sollen irren dürfen und daraus besser werden. Sie sollen aber ab Erreichen einer gewissen Grösse spaltbar gemacht werden. Und nach dem Zellteilungsprinzip sollen sie aufgeteilt werden.
Das bringt einerseits die Chance, überschaubar und wendig zu bleiben. Es gibt aber auch den jungen Menschen im Unternehmen die Chance, selbst ihre Erfolgsgeschichte mit dem neuen Organismus zu schreiben. Und dies ist etwas vom schönsten, was man als Unternehmer bewirken kann – andere Menschen zu Unternehmern heranzuziehen.
Addendum vor Redaktionsschluss: dieser Artikel wurde anfangs März verfasst. Das tragische Schicksal der CS ist eine Bestätigung dieser Stellungnahme, nicht deren Ursprung.