Tausche Freiheit gegen Macht. Wirklich?

Text: Louis Grosjean (Bild), Partner altrimo
Tidjane Thiam, Guy Lachapelle, Korpskommandant Roland Nef vor einigen Jahren und viele andere Fälle haben eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: Wenn ein hoher Leader vom Thron fällt, hat das fast immer mit dem Verlust seiner Glaubwürdigkeit zu tun. Die Königsmacher – ob im VR, bei führenden Aktionären oder sonstwo in den Zirkeln der Macht – beurteilen die Diskrepanz zwischen dem, was der Leader tut, und dem, wofür er hinstehen sollte, als nunmehr untragbar.
Das Komische dabei ist: Es handelt sich immer noch um den gleichen Menschen wie zum Zeitpunkt seiner Ernennung. Was trennt seine Krönung von seiner Entmachtung? Der Verlust seiner Glaubwürdigkeit.
Was der Mund verspricht, soll die Hand vollziehen
Eine gängige Definition der Glaubwürdigkeit lautet: «Tun, was man sagt, und sagen, was man tut». Anders ausgedrückt: Die Hand vollzieht, was der Mund versprochen hat.
Nun, keiner der eingangs genannten Leader hat jemals versprochen, ein moralisch tadelloser Mensch zu sein. Sie alle haben jedoch ein Amt im Schaufenster der Öffentlichkeit angenommen. Und die Öffentlichkeit – Medien voran – fordert einen makellosen Leumund. Da haben moralisch bedenkliche Taten nichts verloren – egal, ob strafrechtlich relevant oder nicht bzw. ob in der geschäftlichen oder Privatsphäre geschehen.
Im Gegensatz zu weniger exponierten Leadern wie etwa KMU-Unternehmer haben sich Exponierte nämlich einem Wertekanon unterstellt, der nicht ihr eigener ist: demjenigen der öffentlichen Meinung.
Exponierte Ämter machen unfrei
Meine erste Feststellung lautet: Diese öffentlichkeitsexponierten Leader haben mit dem Amt Macht erhalten, jedoch Freiheit verloren. Sie haben ihr Verhalten strengeren Massstäben unterworfen. Die Grenze der Freiheit ist nicht wie bei normalen Bürgern das Gesetz; sie entspricht der öffentlichen Meinung.
Die zweite Schlussfolgerung liegt auf der Hand, wird aber gerne ignoriert: Wer moralisch nicht jederzeit den Anforderungen der öffentlichen Meinung entspricht, ist für solche exponierte Ämter nicht geeignet. Denn ansonsten droht früher oder später der unrühmliche Fall.
Drittens gibt es eine eminent wichtige Aufgabe vor der Übernahme eines exponierten Amtes: die Überprüfung des eigenen Wertekanons und die Durchleuchtung der eigenen Vergangenheit. Wenn die Prüfung mit den Anforderungen des Amtes nicht vereinbar ist, sollte man die Finger vom Amt lassen.
Schliesslich müssen sich diese Leader der Prioritäten bewusst sein. Zuerst sind die Werte (die eigenen und diejenigen der Öffentlichkeit) strikt zu beachten. Dann darf die Macht ausgeübt werden. Und zum Schluss kommt die Freiheit im eigenen Handeln. Wer die Reihenfolge durcheinanderbringt, verliert sein Amt. Denn die Missachtung der Werte führt zum Verlust der Glaubwürdigkeit.
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Erkenne dich selbst
Eine viel zitierte Inschrift am Apollotempel von Delphi in Griechenland lautet: «Erkenne dich selbst». Sie wird einem der sieben Weisen der frühen griechischen Philosophie, Chilon von Sparta, zugeschrieben. Chilon von Sparta war im VI. Jahrhundert v. Chr. tätig. Es ist den zukünftigen, öffentlichkeitsexponierten Leadern zu wünschen, dass sie und die sie aussuchenden Headhunter sich diesen alten Spruch zumute führen. Und dass sie sich gut überlegen, ob sie glaubwürdig und frei oder glaubwürdig und mächtig sein wollen.
Mächtig und frei geht nämlich in unserer demokratischen, moralisch geprägten Gesellschaft nicht.