Gast-Kommentar

Vergangenheit

Vergangenheit
Louis Grosjean
Lesezeit: 2 Minuten

Eine glückliche Vergangenheit weckt oft Sehnsucht. Vor allem in der zweiten Lebenshälfte wird klar: Vieles ist nicht mehr möglich, gewisse Türen sind zu. Viele beklagen sich darüber und wünschen sich die Rückkehr vergangener Zeiten herbei. Wie Seneca uns hilft, dieses quälenden Gedankens Herr zu werden, zeigt Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie».

Text: lo

Früher konnte ich einen Halbmarathon in weniger als 100 Minuten laufen. Auf meine Zeit als Kompanie-Kommandant und die Glanztaten meiner Einheit blicke ich mit Wehmut zurück. Die Geburten meiner Kinder waren vermutlich die schönsten Momente in meinem Leben, und sie liegen für immer hinter mir.

Wenn ich mit älteren Menschen spreche, sehnen sich die meisten nach früheren Zeiten. Erstens stellen sie die Vergangenheit auf eine Empore der Perfektion. Das ist menschlich: Wir tendieren nämlich dazu, negative Erinnerungen zu verdrängen. Zweitens sind sie traurig, dass diese Vergangenheit eben nicht mehr ist. Und drittens werden sie sich mit zunehmendem Alter bewusst, was sie in ihrem Leben nicht mehr vollbringen werden – weil die Kräfte nachlassen oder weil die Zeit knapp wird.

Muss diese Melancholie sein?

Ein unantastbarer Schatz

Um ein Gegengift zu finden, musste ich zeitlich bis ins erste Jahrhundert nach Christus zurück: zu Seneca, einem römischen Philosophen und Berater des römischen Kaisers Nero. Der Originaltext ist wunderbar.

«In drei Zeiträume gliedert sich das Leben: Was war, was ist, was sein wird. Davon ist der Zeitraum, in dem wir handeln können, kurz, was wir in der Zukunft tun werden, ist ungewiss, nur was wir getan haben, steht fest. […] Dabei ist die Vergangenheit der geheiligte und unantastbare Bereich unserer Lebenszeit, der allen menschlichen Schicksalsschlägen enthoben ist. […] Es ist ein Besitz für immer und frei von Sorgen.»

Wie schön und befreiend diese Haltung ist… Die Vergangenheit ist ein Schatz, den wir in all unseren Jahren angehäuft haben. Und niemand kann ihn uns stehlen. Erfreuen wir uns daran.

Die zwei Makel des Schatzes

So schön diese kontemplative Haltung ist, sie hat zwei Unzulänglichkeiten.

Erstens gibt es unglückliche Vergangenheiten, auf die man nicht gern zurückblickt. Das ist nicht abzustreiten. Primo Levi hätte mit Seneca nichts anfangen können. Aber da gibt es keine Melancholie, keine Sehnsucht, die zu bekämpfen ist. Da hilft nur die Hoffnung in die Zukunft. Christliche Werte, zum Beispiel, sind da eine bessere Stütze.

Zweitens ist die Vergangenheit nicht nur ein Schatz, sondern auch ein Seil, das uns bindet. Wer sich ausschliesslich an seiner Vergangenheit orientiert, verliert den Glauben an die Zukunft und die Unternehmenslust. Der Greis kann der Haltung Senecas vieles abgewinnen; doch für den tüchtigen Menschen inmitten des Lebens ist sie unvollständig.

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Die drei Zeiten einordnen

Mein Fazit zu Senecas Gedanken ist differenziert. Für die Zukunft und die Gegenwart habe ich hilfreichere philosophische Referenzen. Für die Vergangenheit hingegen finde ich seine Haltung wundervoll. Meine Kinder und ihre Geburten sind wahrlich ein Schatz in der Kammer meiner Erinnerungen. Da ich endlich bin (und wir mit vier Kindern doch bereits zu den Gesegneten gehören), bringt es nichts, wenn ich weitere Kindergeburten herbeiwünsche. Ich betrachte dieses Werk als vollendet und schaue es mit Freude an.

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