Leidenschaft und Augenmass

Text: Louis Grosjean (Bild), Partner altrimo
Kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges befand sich Deutschland an einer politischen Weggabelung: Die aufstrebenden Kommunisten, die rechtsmilitaristischen Freikorps und weitere extremistische Gruppierungen machten es der jungen Weimarer Republik schwer. Das erste demokratische Experiment Deutschlands stand auf fragilen Beinen.
In dieser turbulenten Zeit wandte sich der Soziologe Max Weber in einer berühmt gewordenen Rede an Münchner Studenten. Er zeichnete ein Bild des Berufspolitikers, das jeden Leader inspirieren kann.
«Langsames Bohren von harten Brettern»
Warum wähle ich diese Rede? Leader orientieren sich am besten an schwierigen Situationen und an schwierigen Zeiten. Denn in solchen tritt der wahre Charakter eines Leaders hervor. Nicht im Wohlstand, nicht in der Stabilität braucht es den Leader; es braucht ihn, wenn der Weg steinig ist.
Berühmt geblieben ist folgendes Zitat aus der Rede Webers: «Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmass zugleich.» Leidenschaft und Augenmass sind also die zwei wichtigsten Qualitäten, die ein Berufspolitiker in den Augen Webers besitzen muss. Wenden wir uns diesen beiden Begriffen zu.
Leidenschaft ist Leidensbereitschaft
Leidenschaft hat drei Komponenten: die emotionale Energie, das visionäre Handeln und die Verletzungsbereitschaft.
Emotionale Energie bedeutet die Fähigkeit, die eigene Organisation mit Energie zu füllen und empathisch mit den Menschen darin zu interagieren. Wer nur technisch regiert und verwaltet, entfacht kein Feuer und keine Energie. Charisma ist gefragt.
Das visionäre Handeln ist, was wir vielfach unter «purpose-driven» verstehen: Sein Handeln als Mittel für einen höheren Zweck zu verstehen.
Persönlich finde ich die dritte Komponente – die Verletzungsbereitschaft – spannend, weil sie so menschlich ist. Ein Leader muss sich exponieren. Er akzeptiert Fehler und lernt daraus, statt sie um jeden Preis zu vermeiden. Er ist bereit, für sein Handeln kritisiert zu werden, allenfalls seine Stellung zu verlieren oder – in extremen Fällen – sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Augenmass gegen extreme Lösungen
Jesus Christus ohne Kreuz, Gandhi ohne britische Gefängnisse wären nie so prägende Leader-Figuren geworden. Im Alltag geht es zwar nicht um Kreuz oder Gefängnis; Leiden muss der Leader aber aushalten können. Sonst ist er einer der zahlreichen Experten und Kommentatoren, die das Geschehen von der Seitenlinie aus beobachten und von der Geschichte schnell vergessen werden.
Weiter braucht der Leader Augenmass. Es genügt dabei nicht, Leidenschaft zu zeigen: Das taten die Revolutionären aus der Zeit Webers zur Genüge, jedoch mit verheerenden Ergebnissen. Leidenschaft allein führt ins Chaos. Augenmass ist deshalb unerlässlich. Es erinnert an die «goldene Mitte» der aristotelischen Ethik und dient als moralisches Bollwerk gegen extreme Haltungen. Güterabwägung, gesunder Menschenverstand und Perspektivenvielfalt sind Bestandteile des Augenmasses.
Die Umsetzung
Leidenschaft und Augenmass sind primär Charaktereigenschaften. Ich bin der Meinung, dass jeder Leidenschaft und Augenmass in sich hat – bei den einen sind sie eher verborgen, bei den anderen stark ausgeprägt. Wie kann ich als Leader daran arbeiten?
Leidenschaft beginnt mit der Frage, wofür ich mich in nächster Zeit exponieren werde. Das ist ein guter Leader-Vorsatz – besser als jede Stunde Sport. Dann muss ich die Verletzung akzeptieren! Wenn mir dies gelingt, weiss ich, dass ich einen übergeordneten Zweck verfolge.
Augenmass bedeutet, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Damit ist ein Verzicht verbunden, denn ich kann nicht 20 Ziele mit Leidenschaft verfolgen. Augenmass ist auch, auf Unwichtiges zu verzichten.
Schliesslich bedeuten Leidenschaft und Augenmass nicht Arbeit im stillen Kämmerlein. Leidenschaft ist wie ein Feuer und lebt von der Übertragung. Augenmass wird verstärkt durch das Einholen weiterer Meinungen und Perspektiven. Gerade in Zeiten von Home Office gilt: Die Interaktion zu suchen, bleibt für den Leader zentral.
Einfach ist das keineswegs. Das postulierte Max Weber auch nicht, als er von «starkem langsamem Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmass» sprach. Leadership ist eine ständige Herausforderung.