«Wir haben sehr viele international erfolgreiche Unternehmungen»

Maria Pappa, die Stadt St.Gallen gibt in der Schweiz gerade ein schlechtes Bild ab – einverstanden?
Nein. Ich sehe das definitiv anders, und ich bin da nicht allein. Ich stütze mich nicht auf zwei Artikel von Einzelpersonen ab, sondern auf verschiedene Studien und die Bevölkerungsbefragung, die wir vor eineinhalb Jahren gemacht haben. Die Zufriedenheit in der Stadt lag bei 73 Prozent, in der Innenstadt sogar bei über 80 Prozent.
Sind Sie selbst auch zufrieden mit Ihrer Stadt?
Ja. St.Gallen ist eine agile Stadt, sie ist attraktiv für unsere Bewohner, ebenso für die vielen Gäste, die unsere Stadt besuchen. Wir haben sehr viele Anlässe, an denen die Stadt voll von Menschen ist, vom Aufgetischt bis zum OpenAir, im Juni haben wir das Nordostschweizer Schwingfest hier, im Juli die Frauenfussball-Europameisterschaft. An den jährlichen Neuzuzügeranlässen zeigen sich die Leute positiv überrascht, weil sie die Stadt vorher nicht kannten.
Hat St.Gallen mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung nicht zu wenig Neuzuzüger? Andere Städte wachsen, St.Gallen dümpelt dort, wo es vor 100 Jahren schon einmal war.
«Vor der Textilkrise waren wir top» – damit sollten wir uns nicht mehr aufhalten. Wir müssen die Entwicklung in den letzten 20, 30 Jahren anschauen. Da ist die Entwicklung völlig im Rahmen, langsam, aber das hat auch Vorteile. Bedenklich wäre, wenn es abwärts ginge. Ausser 2017, als die Entwicklung stagnierte, sind wir stets am Wachsen.
Das Wachstum muss man in den Statistiken mit der Lupe suchen.
St.Gallen wuchs in den Jahren 2013 bis 2023 um 4,9 Prozent, Biel um 5,5 Prozent und Luzern um 6,3 Prozent. Dies sind keine gewaltigen Unterschiede. Beachten muss man auch, dass vermehrt Menschen in den umliegenden Gemeinden wohnen, aber St.Gallen als Zentrum nutzen. Die Region wächst.
Fehlt denn in St.Gallen attraktiver Wohnraum?
Ja. Neubauten insbesondere im Eigentum finden sofort neue Besitzer. Der Wohnort St.Gallen ist sehr gefragt, dies wurde mir auch in einem Austausch mit der St.Galler Kantonalbank bestätigt: Die Nachfrage nach Wohneigentum in der Stadt ist gross, das Angebot zu klein. Es wird zu wenig gebaut in der Stadt – da haben wir im ganzen Kanton das gleiche Problem. Das neue Baugesetz von 2017 verunsichert teilweise die Investoren, weil unklar ist, was nun gilt.
Wenn man in der Schweiz von Wirtschaftsdynamik spricht, kommt einem nicht zuerst St.Gallen in den Sinn.
Nun, man sollte uns nicht mit Zürich oder Basel vergleichen. Trotzdem haben wir für unsere Grösse sehr viele Unternehmungen, die international erfolgreich unterwegs sind, manche kennt man, andere vielleicht weniger. Ich denke da an Akris, CSL Vifor, IBG Engineering, Adcubum, Gallus, Frontify, Meteomatics, HB Therm … Auch unsere Kreativbranche ist international vernetzt, zehn Prozent der Arbeitsplätze stammen aus diesem Bereich. Wir haben 88’000 Arbeitsplätze in der Stadt, mehr als vergleichbare Städte, täglich kommen sehr viele Pendler nach St.Gallen zur Arbeit.
Ein Auslöser der aktuellen Diskussion ist der Wegzug des Helvetia-Headquarters, was sich wohl nicht verhindern liess. Aber zuvor zogen Firmen wie Kellenberger oder Gema weg von St.Gallen. Was tun Sie, um die guten Unternehmen hier zu halten?
Über die Standortförderung sind wir im steten Kontakt mit Unternehmungen. Wenn wir ein Signal bekommen, dass eine Firma ein Bedürfnis hat, suchen wir nach Lösungen, wir zeigen auf, wo es noch freie Böden gibt. Gema wollte einen Neubau errichten, um sich zu vergrössern, für die Geschäftsleitung mit Priorität in der Stadt St.Gallen. Die Schwierigkeit war das Thema Baurecht, denn die amerikanischen Besitzer kennen dieses Konstrukt nicht. Die Helvetia Baloise beschäftigt seit Langem in Basel ein Vielfaches an Mitarbeitern im Vergleich zu St.Gallen. Da ist ein Wechsel des Hauptsitzes bedauerlich, aber nachvollziehbar. Zudem haben die neue Geschäftsleitung und der neue Verwaltungsrat kaum noch einen persönlichen Bezug zu St.Gallen. Der Stadtrat war im regelmässigen Austausch mit ihnen, hat als öffentliche Hand jedoch nicht viele Hebel, um in unternehmerische Entscheide einzugreifen. Wir setzen uns jedoch weiterhin dafür ein, dass St.Gallen ein wichtiger Helvetia-Baloise-Standort bleibt.
Ein anderer prominenter Hauptsitz in St.Gallen ist Raiffeisen Schweiz.
Bei Raiffeisen Schweiz haben wir keine Anzeichen, dass das Unternehmen eine Verlegung des Hauptsitzes erwägt.
Man wird auch nicht Raiffeisen provozieren und den Namen des Raiffeisen-Platzes ändern, wie unlängst gefordert wurde?
Das ist ein Geschäft, das der Stadtrat noch nicht fertig behandelt hat. Dazu kann ich keine Stellung nehmen.
«Wir haben 88’000 Arbeitsplätze in der Stadt.»
Fast alle Gemeinden im Kanton haben in einer Abstimmung die Absicht, der Stadt einen etwas höheren Ausgleich der Zentrumslasten zu gewähren, deutlich abgelehnt.
Ja, unter anderem dachten die anderen Gemeinden wohl, dass die Stadt bevorzugt und sie benachteiligt werden. Die SVP hat ihre Propaganda erfolgreich durchgezogen.
Es muss auch konkrete Gründe geben. Viele Leute sagen, die Stadt sei schlecht erreichbar, sie fühlen sich nicht mehr willkommen.
Bashen ist immer einfacher, als Fakten aufzuzeigen. Die Realität zeigt sich anders. Die Stadt verfügt über vier Autobahnanschlüsse, vier Bahnhöfe sowie ein dichtes, gut funktionierendes ÖV- und Strassennetz. Wir sind gut erschlossen. Wir haben auch genügend Parkplätze. Es wurden nur einige oberirdische Parkplätze aufgehoben, für die es neu unterirdischen Ersatz gibt. Übrigens basieren diese Massnahmen auf einem Parkplatzkonsens, der vor rund 15 Jahren von einem bürgerlichen Stadtrat und Parlament initiiert wurde.
Busse werden durch Tempo-30-Zonen gebremst, Bushaltestellen werden auf der Fahrbahn platziert, dadurch entsteht Stau, in dem auch der folgende Bus steckt.
Die städtischen Verkehrsbetriebe haben letztes Jahr einen Rekordgewinn gemacht, wir haben über 30 Millionen Menschen transportiert. Eine Studie attestiert St.Gallen die schnellsten ÖV-Verbindungen unter allen grösseren Schweizer Städten. In der Bevölkerungsbefragung ist die Zufriedenheit mit dem ÖV top. Es gibt keine gewollten Verkehrsbehinderungen. Das ist ein Märchen. Wir haben ein Problem zu Spitzenzeiten, und es bräuchte nur wenig, um diese Spitzen zu brechen.
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Wenn der Rosenbergtunnel der Stadtautobahn ohne dritte Röhre saniert werden muss, droht rund um die Uhr eine Verkehrsspitze, bis zum kompletten Kollaps.
Der Stadtrat hat sich immer für die dritte Röhre eingesetzt, sogar für die Spange Güterbahnhof. Aber wir müssen auch akzeptieren, dass die Mehrheit der Bevölkerung in der Stadt St.Gallen das nicht will.
Also muss St.Gallen 40’000 Autos zusätzlich auf dem städtischen Strassennetz schlucken?
Wenn die Autobahn gesperrt wird, haben wir ein gröberes Problem in der Stadt, darum hat sich der Stadtrat für die dritte Röhre ausgesprochen. Die Schweizer Bevölkerung hat sich gegen diese Projekte ausgesprochen, nun ist es Aufgabe des Bundes, zusammen mit dem Kanton und der Stadt, alternative Lösungen zu finden.
Unterstützt die Stadt die Bestrebungen der Ostschweizer Kantone, Projekte wie eben die dritte Röhre doch noch zu realisieren?
Über den Güterbahnhof gab es 2016 eine städtische Abstimmung, da hat sich die Bevölkerung klar für einen möglichen Autobahnanschluss ausgesprochen. Daher war der Stadtrat legitimiert, in diese Richtung zu planen. Aber jetzt sind wir in einem Zwiespalt: Vergangenen November hat die städtische Bevölkerung bei der eidgenössischen Abstimmung den Ausbau der Autobahnen deutlich abgelehnt. Der Stadtrat wird in den weiteren Planungen dieses Ergebnis berücksichtigen müssen.
«Es gibt keine gewollten Verkehrsbehinderungen. Das ist ein Märchen.»
Ohne dritte Röhre bräuchte es einen glaubwürdigen Plan B. Gibt es den?
Es ist noch zu früh; in der Verantwortung ist in erster Linie das Bundesamt für Strassen. Aber für noch mehr Autos in der Stadt haben wir wirklich keinen Platz. Deshalb war die Autobahn eine gute Lösung, dank ihr haben wir ziemlich wenig Stau in der Stadt.
Das sehen in Ihrer Partei die meisten Leute anders.
Sie favorisieren andere Lösungen, das ist eine legitime andere Einstellung zur Mobilität.
Die Einstellung ist oft eher Wunschdenken, doch die Blechlawine kann man sich nicht wegwünschen.
Die Position des Stadtrats ist klar: Wir haben immer gesagt, dass wir etwas brauchen. Es gab nie eine andere Aussage seitens des Stadtrats.
Gross gedachte Ideen haben es in St.Gallen oft schwer. Die Überdeckung St.Fiden wird wohl ein Kapitel in der Neuauflage von «St.Gallen – eine Stadt, wie sie nie gebaut wurde».
Der Stadtrat hat die Machbarkeitsstudien für eine Überdeckung unterstützt, obwohl Expertisen die Wirtschaftlichkeit einer Überdeckung infrage gestellt haben. Die SBB als Grundbesitzerin haben ihr Land für eine Überdeckung der Geleise nicht mehr zur Verfügung gestellt. Mit den Machbarkeitsstudien wie auch mit der Testplanung haben wir aber weitere gute Varianten für die Entwicklung des Kerngebietes St.Fiden-Heiligkreuz und darüber hinaus erhalten.
Hatte man bei den SBB genügend Druck an den richtigen Stellen gemacht?
Durchaus. Mit den SBB wurden auch auf höchster Ebene Gespräche zur Überdeckung der Geleise geführt, auch vonseiten der Kantonsregierung. Aber wir dürfen nicht nur der einen Idee nachhängen, die Machbarkeitsstudie hat andere tolle Möglichkeiten aufgezeigt.
Möglichkeiten gäbe es auch auf anderen Arealen.
Wir sind an verschiedenen Arealentwicklungen dran: St.Gallen West-Gossau Ost mit Winkeln, Lerchenfeld/Bruggen-Haggen, Bahnhof Nord, Ruckhalde … Gleichzeitig ist die neue Ortsplanung in Revision; unsere Leute sind stark absorbiert.
Mit dem Argument, die Leute seien absorbiert, hat der Stadtrat den Rhythmus des Kinderfestes von drei auf vier Jahre gestreckt.
Eine Umfrage bei den Schulleitungen, den Lehrern und dem zuständigen Verwaltungspersonal hat ergeben, dass ein Kinderfest im Jahr 2028 favorisiert wird, weil ihnen zeitliche und personelle Ressourcen fehlen. Es laufen zurzeit schulische Grossprojekte, die Priorität haben. Das nehmen wir ernst.
Das Kinderfest ist eine identitätsstiftende städtische Institution.
Ich möchte betonen: Das Kinderfest bleibt! Für die Schulen ist das Kinderfest ein Höhepunkt. Die nächste Durchführung findet nur ein Jahr später statt. Wir nehmen lediglich Rücksicht auf die aktuelle Rückmeldung aus den Schulen.
Wenn Sie auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen müssten: Was würden Sie gerne realisieren?
Ich erhoffe mir, dass sich der Switzerland Innovation Park Ost weiterentwickelt und noch mehr zukunftsfähige Arbeitsplätze entstehen. Den Anstoss dazu gab vor 15 Jahren die Stadt, als wir mit den Partnern Universität St.Gallen, Fachhochschule St.Gallen und Empa das Startfeld gründeten. Ich verspreche mir auch viel von einer neuen Bibliothek: Ein lebendiger Ort, zu dem von überall her Leute kommen, wäre eine Mega-Stärkung der Innenstadt. Vor allem aber wünsche ich mir einen gemeinsamen Optimismus in der Stadt! Auf dass man nicht immer nur einige Nörgler hört. Vorwärtsschauen und die Stadt gemeinsam vorwärtsbringen – das ist eine Grundhaltung, die mir manchmal fehlt.
Haben Sie denn das Gefühl, dass der Stadtrat diese Haltung ausstrahlt?
Wir haben seit 2017 eine Vision mit neun Handlungsfeldern. Daran arbeiten wir konstant. Allerdings sind die einzelnen Schritte in dieser Legislatur kleiner geworden, weil wir auch die Gesundung des Finanzhaushalts als Ziel haben. Die massiven Zentrumslasten von jährlich 36 Millionen Franken und die zusätzlichen Aufgaben, die der Kanton in den vergangenen Jahren im Umfang von 32 Millionen jährlich auf uns überwälzt hat, bremsen uns ab.
Text: Philipp Landmark
Bild: zVg