Weniger entscheiden, besser leben

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo
Im letzten Artikel habe ich skizziert, was uns Menschen passiert, wenn wir das Denken immer mehr an die künstliche Intelligenz delegieren. Wir werden denkfaul und verlieren eine wesentliche Eigenschaft des Menschen: die Vernunft.
In diesem Artikel versuche ich, mithilfe von Peter Gross zu zeigen, dass diese Entwicklung durchaus nützlich sein kann. Es geht darum, mithilfe von künstlicher Intelligenz die Multioptionsgesellschaft zu überwinden.
Problem «Optionenreichtum»
Unser modernes Leben ist geprägt von Ubiquität. Wir sind zu einem noch nie erreichten Grad in der Lage, jederzeit und überall Dinge zu tun oder zu unterlassen. Wir haben einen Höhepunkt in der Handlungsfreiheit erreicht.
Dieses Phänomen beschrieb Peter Gross als «Die Multioptionsgesellschaft». Peter Gross (1941–2023) war Soziologieprofessor an der Universität St.Gallen. Er postuliert, dass wir nicht nur sehr viel mehr Optionen als in der Vergangenheit haben, sondern auch, dass dieser Optionenreichtum uns überfordert.
Ein Beispiel dazu: Beim Einkaufen stehe ich vor dem Joghurt-Regal und kann aus 100 verschiedenen Sorten auswählen. Ich muss meinen Entscheid entlang der Parameter Geschmacksrichtung, Preis, Gewicht, Qualität, Marke usw. fällen. Aber eigentlich will ich das gar nicht – schon gar nicht am Feierabend, nach einem intensiven und entscheidungsreichen Arbeitstag. Die Energie und die Zeit, die ich in diesem Auswahlprozess verliere, sind mir einfach zu schade. Wer kennt dieses Gefühl nicht?
Dieser Optionenreichtum begegnet (und überfordert) uns im täglichen Leben. Soll ich heute Abend mit den Kindern spielen, die Steuererklärung (endlich) online ausfüllen, meine privaten E-Mails bearbeiten, meine Zahlungen im E-Banking erledigen, die nächsten Ferien buchen oder noch ein paar geschäftliche Dinge erledigen? Vor 30 Jahren hätte ich diese Auswahl nicht gehabt. Die modernen Möglichkeiten geben mir mehr Freiheit, zwingen mich aber immer wieder zu entscheiden, was ich tun will.
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Ständiges Entscheiden ist nicht gut
Leader müssen so oder so überdurchschnittlich viele Dinge entscheiden. Dadurch kann das Gefühl der Entscheidungsmüdigkeit aufkommen. Das Beispiel des Joghurt-Regals veranschaulicht, was passiert, wenn wir zu viele Entscheide in einem gegebenen Zeitraum zu fällen haben. Die Entscheide werden einfach schlecht gefällt, d. h. nicht rational, sondern zufällig.
Im Regal greife ich einfach nach dem Himbeer-Joghurt auf Schulterhöhe, weil dieser mir am schnellsten aufgefallen ist. Das ist noch nicht so schlimm. Aber wenn es am Abend darum geht, am Familientisch private Entscheide zu treffen und ich schon komplett entscheidungsmüde bin, dann ist das schlecht. Wenn der abendlichen GL-Sitzung viele Entscheide am Tag vorangegangen sind, drohen auch da schlechte Entscheidungen – mit verheerenden Folgen.
Dank KI fokussieren
Die Qualität von Entscheiden hängt also massgeblich davon ab, wie viele Entscheide in einem gegebenen Zeitraum zu fällen sind: je weniger, desto besser.
Im Einsatz von künstlicher Intelligenz liegt möglicherweise eine Chance. Man stelle sich vor:
- Mein persönlicher KI-Assistent wird mit meinen persönlichen Werten, Vorlieben und Entscheidungsmustern gefüttert.
- Ich habe die Möglichkeit, diesem Assistenten unwichtige Entscheide zu überlassen.
- Ich kann mich somit auf die wenigen, wirklich wichtigen Entscheide am Tag fokussieren.
Ich bin überzeugt: In einem solchen KI-Einsatz liegt das Potenzial, unser Denken und unsere Entscheide durch Fokussierung zu verbessern. KI kann uns helfen, die Herausforderung «Multioptionsgesellschaft» zu meistern.