Gewaltfrei führen?

Zur Erinnerung aus dem letzten Artikel: Arendt definiert Macht als die Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzuschliessen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Gewalt ist hingegen ein Werkzeug zur Erreichung bestimmter Ziele gegen den Willen der Betroffenen. Macht und Gewalt schliessen sich grundsätzlich aus, d. h. Gewalt unterminiert die Macht, während gut etablierte Macht keiner Gewalt bedarf.
Wie tritt Gewalt in unserem (v. a. beruflichen) Alltag auf den Plan? Konspiratives Schlechtreden über eine Arbeitskollegin, Durchsetzung eines Entscheids gegen den klaren Willen der Unterstellten, Mobbing und dergleichen stellen klare Fälle dar. Der Gewaltanwender verfolgt ein Ziel und ist zu dessen Erreichung bereit, Schaden anzurichten.
Ursachen der Gewalt im Alltag
Die Frage stellt sich dabei, warum Gewalt überhaupt angewendet wird – denn die vorgenannten Beispiele dürften uns kaum erstrebenswert erscheinen. Ich stelle folgende Fälle fest (der Leserschaft werden bestimmt weitere Konstellation einfallen):
Zeitmangel: Die verfügbare Zeit, um ein Ziel zu erreichen, reicht nicht aus, um einen Zusammenschluss und Konsens mit allen Akteuren zu erzeugen.
Physischer oder psychischer Stress wie z. B. Schlafmangel: Die Bereitschaft, Energie in Überzeugungsarbeit und konstruktiven Diskurs zu investieren, nimmt mit dem Stress drastisch ab.
Unzulänglichkeit der eigenen Position: Eine These, eine Meinung, ein Entscheid sind schlicht zu wenig durchdacht. Im Diskurs stellt sich die Schwäche der eigenen Position heraus. Es braucht eine gewisse Grösse, um dies einzugestehen und die eigene Position zu ändern; ich vermisse diese Fähigkeit bei vielen Berufspolitikern.
Die Reaktion auf eine erkannte eigene Schwäche ist oft die Gegenoffensive: verbale Aggression, ein «Machtwort» (Arendt würde von einem «Gewaltwort» sprechen) oder konspiratives Handeln gegen den Erkenner der eigenen Schwäche.
Emotionales Unverständnis: Ohne böse Absicht brüskieren wir unser Gegenüber. Das ist unbewusste Gewaltanwendung. Unbewusst heisst jedoch nicht folgenlos, und deshalb ist es für Leader essenziell, sich in die emotionale Lage seiner Mitmenschen hineinzuversetzen.
Weniger Gewalt, mehr Macht – was ist zu tun?
Die Verbannung jeglicher Gewalt aus dem Alltag ist ein hehres Ziel. Ganz erreichen wird man es kaum. Darauf hinzuarbeiten, lohnt sich trotzdem: Gewalt unterminiert ja Macht, und Macht ist die Basis für die Einflussnahme auf das Geschehen. Sie ist in der arendtschen Auffassung durchaus erstrebenswert. Sie ist für Leadership gar unabdingbar.
Folgende Ideen sind individuell prüfenswert:
- Anzahl Ziele reduzieren: Leader benötigen weniger Gewalt, wenn sie ihre Energie auf gut durchdachte, von Allen mitgetragene Ziele ausrichten.
- Zeit in die eigenen Ressourcen und in das Denken investieren. Triviales eigenes Beispiel: «Eine Nacht darüber schlafen» und ein gutes Jogging helfen mir persönlich, besser zu denken und zu entscheiden.
- Last, but not least: Wenn die Zeit drängt, sich auf das Was und, noch wichtiger, auf das Warum zu konzentrieren – das Wie jedoch anderen überlassen. Konkretes Beispiel aus der Aktualität: Präsident Zelensky fordert Waffen vom Westen (Was) und argumentiert, dass die Ukraine für die westlichen Werte kämpft (Warum). Für dieses Argument sind westliche Ohren empfänglich. Zelensky kann den Westen nicht mit Gewalt zwingen, seiner Forderung nachzukommen; er versucht jedoch, den Westen zu immer mehr gemeinsamem Handeln aus gemeinsamer Überzeugung zu bewegen. Das ist eine Lektion für Leader in Sachen arendtsche Machtausübung.