Ostschweiz

Als Jugendliche ins Ausland, als Erwachsene zurück

Als Jugendliche ins Ausland, als Erwachsene zurück
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Der Bundesrat will die Schweizer Berufsbildung im internationalen Kontext stärken. Junge Erwachsene sollen so früh wie möglich interkulturelle Erfahrungen sammeln und so zur Innovationskraft der Schweiz beitragen. Wie dies innerhalb der Berufsbildung umgesetzt werden könnte, soll ein internationales Projekt zeigen. Es steht unter der Leitung des Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrums in St.Gallen, das Institut für Kommunikation und Interkulturelle Kompetenz der OST steuert seine wissenschaftliche Expertise bei.

Text: Michael Breu

Zwei von drei Schülern arbeiten am Ende ihrer Ausbildung in einem Beruf, den es heute noch gar nicht gibt. Gleichzeitig wird in den nächsten drei Jahren jeder fünfte Arbeitsplatz überflüssig. 94 Prozent der Unternehmensleiter gehen deshalb davon aus, dass sich die Mitarbeiter neue Fähigkeiten aneignen müssen, um im Job kompetitiv zu bleiben – life-long learning ist ein Stichwort dazu.

Zu diesem Schluss kommen der «Future of Jobs Report 2020» des World Economic Forum (WEF) und der «Zukunftsreport 2023» des Zukunftsinstituts in Frankfurt am Main. Schritt zu halten und innovativ zu sein, sei somit eine zentrale Herausforderung für die Berufsbildung der Zukunft.

Weltoffenheit gehört zur Bildung

Auch das Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) sieht in Mobilitätsprogrammen mit Kulturaustausch und Fremdsprachenerwerb ein Schlüsselelement für Innovation. Nicht nur bei Hochschulabsolventen. Das SBFI hielt bereits vor fünf Jahren in der (vom Bundesrat erlassenen) Berufsbildungsstrategie fest: «Der internationale Austausch mit anderen Ländern ist eine berufspolitische Priorität der Schweiz». Die Weltoffenheit der Schweizer Berufsbildung, ihre Profilierung im Ausland sowie der grenzüberschreitende Wissens- und Erfahrungsaustausch seien wesentliche Bestandteile dieser vorausschauenden Bildungsstrategie.

Gemach! Innovation durch internationalen Austausch ist keine Neuerfindung. Bereits im 16. Jahrhundert führte der grenzüberschreitende Warenhandel der Schweizer Textilindustrie zur Bildung der ersten Schulen. Für die Weiterbildung wurde der (männliche) Nachwuchs im jugendlichen Alter ins Ausland geschickt. Die Zellweger-Söhne aus Trogen (AR) beispielsweise gingen ab den 1740er-Jahren in Lyon und Genua auf Wanderschaft – und errichteten dort Niederlassungen, die dem Firmenimperium der Zellweger Weltruhm verschaffte.

Johann Jacob Sulzer aus Winterthur schickte seine beiden Söhne 1830 nach England mit dem Auftrag: «Erlernt auf euren Wanderjahren im Ausland vor allem das Eisengiessen!» Dank dieser neuen Technik – Eisenguss statt Messing – wurde das Unternehmen Sulzer später zum Weltkonzern. Charles Brown, ein Zeitgenosse der Sulzers, kam als Maschineningenieur auf einem Umweg in die Schweiz und legte in Baden den Grundstein für die Firma Brown, Boveri & Cie (BBC, heute ABB).

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Innovation by Internationalization

«Die Schweizer Industriegeschichte kennt viele Beispiele, die zeigen, dass internationale Erfahrungen und Netzwerke entscheidend sind für den wirtschaftlichen Aufstieg eines Unternehmens», sagt Stefan Kammhuber, Leiter des Instituts für Kommunikation und Interkulturelle Kompetenz (IKIK) an der OST – Ostschweizer Fachhochschule. In der Berufsbildung sei dies leider etwas in Vergessenheit geraten. Doch heute stehe «Innovation by Internationalization» wieder hoch im Kurs.

Ein gutes Beispiel dafür sei das gleichnamige Pilotprojekt im Rahmen eines «Swiss Center of Vocational Excellence». 15 Projektpartner aus neun Ländern (Finnland, Dänemark, England, Belgien, Holland, Spanien, Albanien, Deutschland, Schweiz) haben sich darin gefunden mit dem Ziel, Innovationsförderung in der Berufsbildung durch internationale Vernetzung umzusetzen. Gefördert wird es mit 580'000 Franken von (der nationalen Agentur zur Förderung von Austausch und Mobilität im Bildungsbereich) Movetia im Auftrag des Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation.

Die Projektleitung liegt beim Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrum (GBS) in St.Gallen, die OST – Ostschweizer Fachhochschule steuert ihre wissenschaftliche Expertise in interkultureller Kooperations- und Kompetenzförderung bei.

4K führen zum Ziel

«Ich glaube, dass die Schweizer Berufsbildung gut organisiert ist und gute Ergebnisse hervorbringt. Aber wenn es zum Beispiel darum geht, in einer chaotischen Situation den Überblick zu behalten, kreativ zu werden, kritisch zu kommunizieren oder über den Tellerrand unserer Bildungspläne zu blicken, kommen unsere Lehrlinge und wir selbst an Grenzen», wird GBS-Rektor Daniel Kehl in einer Publikation der Schweizerischen Gesellschaft für Angewandte Berufsbildungsforschung (SGAB) zitiert. Für das Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert müssten deshalb die 4K im Vordergrund stehen: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken.

Auch Stefan Kammhuber betont, dass Interkulturelle Kompetenz mehr sei als nur Fremdsprachenlernen. «In anderen Kulturräumen schärfen Lehrlinge, aber auch Bildungsinstitutionen ihren Blick für ihre eigene kulturelle Identität. Indem man andere kennenlernt, lernt man sich selbst kennen», sagt Psychologe Kammhuber. Auch könnten junge Berufsleute im Ausland andere Technologien und Verfahren lernen, das persönliche und berufliche Netzwerk erweitern und sich so fit machen für international vernetze Betriebe.

«Durch das Wagnis, sich in ein unbekanntes Umfeld zu begeben und offene Situationen zu riskieren, begeben sich Lehrlinge aus ihrer Komfortzone heraus», sagt Kammhuber. Das bilde Selbstvertrauen und Zukunftskompetenzen. Um dieses Potenzial zu nutzen, bedarf es aber eines internationalen Mindsets in Schule und Betrieb, das in entsprechenden Strategien und Strukturen abgebildet sein muss und von der Grundeinstellung getragen ist, dass man auch in der Schweiz von anderen viel lernen kann.

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Eine Baustelle, die niemals endet

Der OST-Professor, der eben erst von einem Treffen der Projektpartner am ROC Horizon College Alkmaar in Nordholland zurückgekehrt ist, gerät ins Schwärmen, wenn er von der dortigen Innovationskraft in der Berufsbildung spricht. Dort gibt es nicht nur einen E-Sport-Campus, der die IT-affinen Jugendlichen magisch anzieht, sondern auch eine konsequent auf Praxistransfer organisierte Ausbildung.

«Dort gibt es beispielsweise ‹die Baustelle, die niemals endet›, auf der die Lehrlinge der Baubranche in Teams mit realen Materialien und Maschinen ein Haus bauen, das danach wieder zurückgebaut wird. Es gibt einen eigenen Hotelbetrieb für externe Gäste, der von den Lehrlingen der Hotelbranche selbst geführt wird. Im ersten Jahr lernt man die einfachen Arbeiten, wie Zimmermachen etc. kennen. Ganz am Schluss der Ausbildung folgt als Höhepunkt die Leitung des Betriebs für einen gewissen Zeitraum. Dort wird man dann auch im Arbeitsalltag geprüft und weniger anhand von Wissensabfragen in Klausuren. Da werden Fachkompetenzen und zentrale berufliche Handlungskompetenzen, wie Team- und Kommunikationskompetenzen differenziert und praxisnah miteinander ausgebildet.»

Sowohl von der Konsequenz des «handlungskompetenzorientierten Lernens» als auch von der Entwicklung innovationsfördernder Kooperationen aus Politik, Bildungsbranche und Wirtschaft kann auch die Schweiz etwas lernen, davon ist Kammhuber überzeugt. Zudem sollen die jungen Erwachsenen ermuntert werden, im Ausland neue Erfahrungen und Kompetenzen zu sammeln. «Lehrlinge gehen oft als Jugendliche ins Ausland und kommen als Erwachsene zurück», sagt Stefan Kammhuber. So wolle man dafür sorgen, dass die Schweizer Berufsbildung auch in Zukunft zur Spitze zähle und ihre Innovationskraft erhält.

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