Gast-Kommentar

«Warum der Bundesrat immer mehr zum Problem wird»

«Warum der Bundesrat immer mehr zum Problem wird»
Kurt Weigelt war von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell
Lesezeit: 4 Minuten

Gemäss Art. 174 der Bundesverfassung ist der Bundesrat die «oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes ». Und nicht der Chefverkäufer einer staatlichen Propagandamaschine, kommentiert Kurt Weigelt in seiner Kolmune «Dies gelesen: Das gedacht:».

Text: Kurt Weigelt

Dies gelesen: «Das EU-Vertragspaket ist wie der Rütli-Schwur» (Quelle: Bundesrat Jans, blick.ch. 15.6.20259)

Das gedacht: Die Absicht ist klar. Mit dem Rütli-Schwur-Vergleich will Bundesrat Jans der SVP mit Blick auf die Auseinandersetzungen um das EU-Vertragspaket den Wind aus den Segeln nehmen und seinerseits die patriotische Karte spielen.

Ebenso klar ist, dass dies Unsinn ist. In der Logik des EU-Vertragspakets hätten Uri und Schwyz Gesetze erlassen können, die auch für Unterwalden verpflichtend gewesen wären. Im Verweigerungsfall hätten Uri und Schwyz ihre Bundesgenossen mit Ausgleichsmassnahmen bestrafen können.

Vielfalt in der Einheit

Die Spielregeln des EU-Vertragspakets sind das exakte Gegenteil von allem, was die alte Eidgenossenschaft auszeichnete.  Dem Genossenschaftsgedanken entsprechend war diese als eine Verbindung von unterschiedlichen, aber gleichberechtigten Stadt- und Länderorten organisiert.

Im genossenschaftlichen Selbstverständnis geht es nicht um Einheitlichkeit, sondern um die in der Präambel der Bundesverfassung angesprochene Vielfalt in der Einheit. Voraussetzung und Zielsetzung der Mitgliedschaft in der Eidgenossenschaft war nicht die Angleichung der politischen Systeme der einzelnen Orte.

In Zürich gaben die Zünfte den Takt an, in Bern die Patrizier. In Appenzell wurden die öffentlichen Angelegenheiten von allen wehrfähigen Männern an der Landsgemeinde entschieden.

Der Respekt vor den unterschiedlichen Verfassungsstrukturen und der Verzicht auf eine starke Zentralgewalt machten das Besondere der Eidgenossenschaft aus. Jeder Ort erledigte die öffentlichen Angelegenheiten für sich selbst, angepasst an die lokalen Verhältnisse.

Mit der Bundesverfassung von 1848 gelang es, die Bedürfnisse der Moderne mit dem staatspolitischen Kerngehalt der alten Eidgenossenschaft zu verbinden und diese in die Zukunft zu führen. Der Föderalismus, die direkte Demokratie und das Milizsystem zeichnen bis heute die Schweiz aus.

Unternehmertag Vaduz  Abacus AG  

Gewaltentrennung

Diese historischen Begebenheiten haben sich aus vielen Köpfen verabschiedet. Die Schweizer Geschichte interessiert nur noch am Rande. Dies gilt auch für die Einflüsterer von Bundesrat Jans. Nur, darum geht es nicht. Bundesrat Jans und mit ihm die ganze Bundesverwaltung sind im Abstimmungsmodus. Und hier liegt der Hund begraben.

Die Gewaltenteilung ist ein entscheidendes Element des politischen Systems der Schweiz. Der Bundesrat ist die Exekutive, die vollziehende Behörde. Verfassungsänderungen und Gesetze werden vom Parlament erlassen und obligatorisch oder fakultativ dem Volk zur Abstimmung vorgelegt.

Soweit die Theorie. Ganz anders die Praxis. Bundesrat und Verwaltung haben sich vom «Vollziehen» längst verabschiedet. Heute geben sie den Takt vor, erklären uns, was richtig und was falsch ist, wie sich der Einzelne zu verhalten und wie die Zukunft auszusehen hat.

Propagandamaschine

Zu diesem obrigkeitsstaatlichen Selbstverständnis gehört eine gut geölte Propagandamaschine. Jedes Jahr investiert die Bundesverwaltung rund 110 Millionen Franken in die Kommunikation, eine Zunahme von 40 Prozent seit 2017.

Man pflegt enge Beziehungen zu den Chefredaktionen grosser Verlagshäuser und zu den öffentlich-rechtlichen Medien. Nicht nur während Corona. Regelmässig landen prominente Journalisten als Kommunikationsverantwortliche in den bundesrätlichen Vorzimmern.

Umgerechnet auf Vollzeitäquivalente sorgen über 400 Bundesangestellte für die aus Sicht von Bundesrat und Verwaltung richtigen Botschaften. Im Vergleich dazu ist jedes Abstimmungskomitee und jedes Parteisekretariat nicht viel mehr als ein Hobbyverein.

Demokratiemanagement

Dies alles zeigt sich auch bei den Diskussionen zum EU-Vertragspaket. Das Drehbuch der Bundesverwaltung ist darauf angelegt, die Gegner noch vor den parlamentarischen Diskussionen in eine möglichst ungünstige Ausgangslage zu manövrieren.

Dazu gehören ein tendenziöses Wording, der selektive Zugang zu den Vertragstexten in der Vorphase, das vorzeitige Aufmunitionieren der eigenen zivilgesellschaftlichen Fusstruppen, staatlich finanzierte Gefälligkeitsgutachten und das Spiel mit dem Ständemehr.

Auch interessant

Weigelt ist zu Gast bei «Brüssel einfach»
St.Gallen

Weigelt ist zu Gast bei «Brüssel einfach»

«Braucht die FDP eine gemeinsame Linie?»
Gast-Kommentar

«Braucht die FDP eine gemeinsame Linie?»

«Die Eidgenossenschaft als Staatsidee hat Zukunft»
St.Gallen

«Die Eidgenossenschaft als Staatsidee hat Zukunft»

Verwandte im Geiste

Dies alles überrascht nicht. Verwaltungen sind über alle Grenzen hinweg Verwandte im Geiste. Die Europäische Union funktioniert, so Oliver Zimmer, in der Tradition des aufgeklärten Absolutismus. Wohlwollende Herrscher sorgten damals für das Glück des einfachen Volkes.

Die Fürsten jener Zeit sind die administrativ geschulten Beamten von heute. Politische Entscheidungsprozesse verlaufen von oben nach unten. Die Macht konzentriert sich bei der Verwaltung und den Gerichten. In diesem Weltbild sind Parlamente ein Störfaktor, von Volksentscheiden ganz zu schweigen.

Feudale Strukturen

Die Schweiz war über Jahrhunderte ein politischer Sonderfall. Dazu gehörte eine Verwaltung, die sich als Dienerin des Volkes verstand. Und nicht als Teil des Königshofs. Auf den unteren staatlichen Ebenen ist vieles davon erhalten geblieben.

Ganz anders sieht es in Bundesbern aus. Die finanziell grosszügig ausgestattete Staatsverwaltung in ihren prachtvollen Verwaltungspalästen erinnert an feudale Strukturen längst vergangener Zeiten. Finanziell weich gebettet und abgeschottet von den Niederungen des Alltags verwaltet und gestaltet man das Leben der Normalbürger.

Fehlender Respekt

Dass angesichts dieser Ausgangslage für viele Bundesangestellte die EU-Bürokratie der ultimative Sehnsuchtsort ist, versteht sich von selbst.

Allerdings beginnt auch in diesem Zusammenhang der Fisch am Kopf zu stinken. Unser Problem ist nicht in erster Linie eine sich verselbständigende Verwaltung, sondern ein Bundesrat, der den Respekt vor den institutionellen Eigenarten der Schweiz vermissen lässt.

Statt billige PR-Schlagzeilen zu liefern, sollte Bundesrat Jans wieder einmal einen Blick in unsere Bundesverfassung werfen. Gemäss Art. 174 ist der Bundesrat die «oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes ». Und nicht der Chefverkäufer einer staatlichen, mit Steuergeldern finanzierten Propagandamaschine.

Auch interessant

Weigelt plädiert für eine zukunftsfähige Schweiz
St.Gallen

Weigelt plädiert für eine zukunftsfähige Schweiz

«Die Lebenswirklichkeit macht den Unterschied»
Gast-Kommentar

«Die Lebenswirklichkeit macht den Unterschied»

«St.Galler Tagblatt» in der Angstspirale
Gast-Kommentar

«St.Galler Tagblatt» in der Angstspirale