Versuch und Irrtum

Text: Louis Grosjean (Bild), Partner altrimo
Am Anfang der modernen Physik stand Sir Isaac Newton. Ein Apfel fiel vom Baum und inspirierte Newton bei der Formulierung der Gravitationstheorie – so die Geschichte. Raum und Zeit waren nach Newton unabhängige Rahmenbedingungen, in denen sich die Objekte bewegen.
Anfangs des XX. Jahrhunderts erfand Albert Einstein die Relativitätstheorie. Plötzlich standen Raum und Zeit in Relation zueinander. Die Raum-Zeit-Krümmung konnte anlässlich der Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919 erstmals bewiesen werden.
Karl Popper, damals ein junger Student, zog folgende philosophische Schlussfolgerung aus diesem wissenschaftlichen Ereignis. Wissenschaft, so Popper, ist nur ein aktueller Stand des Wissens. Dieser Stand gilt nur bis zu dessen Widerlegung (Popper spricht von «Falsifikation»). Wissenschaft ist also nie eine für alle Zeiten gültige Wahrheit. Popper sagt, etwas provokativ: «Das wissenschaftliche ‘Wissen’ ist kein Wissen: Es ist nur Vermutungswissen.»
Die offene Gesellschaft
Diese relative Sichtweise über die Wissenschaft überträgt Popper auf die Gesellschaft. Es gibt nach ihm kein absolutes Modell über die beste Gesellschaftsform. So wie Wissenschaftler den Stand des Wissens immer wieder «falsifizieren» und damit die Wissenschaft Schritt für Schritt weiterbringen, müssen wir in unserer Gesellschaft immer offen für Verbesserungen sein. Soziologie und Politik sind ein ständiger Versuch, die Welt durch Falsifikation des heutigen Standes immer wieder zu verbessern. Wir versuchen, scheitern manchmal, fangen wieder an und machen es dann besser. Eben: Versuch und Irrtum sind die Basis für eine bessere Welt. Die Gesellschaft muss offen sein für die rationale Kritik – das ist die offene Gesellschaft.
Damit geraten absolute Modelle ins Kreuzfeuer der Popperschen Kritik. Gesellschaftsmodelle, die a priori für immer als richtig gelten sollen, führen zur Verbiegung des Menschen und zur Katastrophe. Popper, ein Mann des XX. Jahrhunderts, konnte dies am Faschismus und am Kommunismus eindeutig beobachten. Sehr schön hat dies Popper wie folgt ausgedrückt: «Der Versuch, den Himmel auf Erden zu errichten, erzeugt stets die Hölle.»
Schlussfolgerungen für Leadership
Für den Alltag eines Leaders bedeutet dies erstens eine gewisse Haltung: Egal, wie gut ich bin und wie klar ich denke – es muss Platz für rationale Kritik und eine bessere Lösung geben. Ich muss dafür offen sein und dies aktiv fördern. Wenn ich selber im Alltag zu stark beschäftigt bin, um mich mit Kritik auseinanderzusetzen, muss ich mir eine Vertrauensperson «anschnallen», die alle Verbesserungsvorschläge sammelt und diese auswertet. Das Ergebnis reflektiere ich mit dieser Vertrauensperson in einer ruhigen Stunde. In den Worten Poppers: Ich muss nicht nur nach der Bestätigung, sondern bewusst nach der Falsifikation meiner Überzeugung suchen.
Weiter sollten wir uns von absoluten Wahrheiten verabschieden: Es gibt nicht «das Geschäftsmodell», «die Organisationsform» oder «die politische Ideologie». Es gibt immer nur vorübergehende Wissensstände. Die ständige Suche nach der Falsifikation gehört zu den Aufgaben des Leaders. Die Schwierigkeit dabei ist, nicht ins andere Extrem zu fallen: Sich nicht von Zweifeln überkommen zu lassen und bei jeder Kritik wankelmütig zu werden. Das verwirrt die Leute und ist kontraproduktiv. Gefragt ist eine ständige Gratwanderung zwischen Standfestigkeit und Offenheit für rationale Kritik.
Schliesslich leite ich aus Poppers Gedanken ein Plädoyer für die Haltung «Versuch und Irrtum» ab: Statt lange zu debattieren, ob Lösung A oder Lösung B besser ist, bringt ein Versuch oft die besten Erkenntnisse. Dabei müssen ich und meine Organisation akzeptieren, dass ein Versuch scheitern kann.
Das alles ist schneller gesagt als getan. Die Welt brauchte viel Zeit, um zu akzeptieren, dass die Erde rund ist. Dominante Charakter akzeptieren ungerne, dass sie falsch liegen. Wir lieben Wahrheiten, weil sie uns Sicherheit geben. Aber die relative Welt von Popper klingt viel authentischer, viel menschlicher als jede absolute Theorie.