Vom Überlebenskampf zum Stadionneubau

Der Zufall des Spielplans war der Grund, dass die Region St.Gallen und die ganze Ostschweiz den Meistertitel gleich doppelt feiern konnten: Weil der FC Basel am 21. Mai 2000 gegen Servette nicht gewonnen hat, war der FC St.Gallen 1879 in der Rangliste nicht mehr einzuholen und stand als Meister fest. Das Spiel aus Genf wurde auf dem St.Galler Marktplatz mit Grossbildschirm direkt übertragen. Mit dem Schlusspfiff begann die erste Meisterfeier. Trainer Marcel Koller und die Mannschaft zeigten sich auf dem Balkon der ehemaligen St.Gallischen Creditanstalt (heute Acrevis-Bank). Die Innenstadt versank im grün-weissen Fahnenmeer. Nach dem letzten Spiel am 7. Juni 2000 bekam der FC St.Gallen im ausverkauften Stadion Espenmoos den Meisterpokal. Gefeiert wurde nicht nur im Stadion, sondern viele tausend Fans kamen nochmals auf den Marktplatz und in die Innenstadt. In der Ostschweiz entwickelte sich über den Fussball hinaus ein neues Wir-Gefühl.
Alles andere als selbstverständlich
Der Erfolg des ersten Meistertitels seit 1904 war alles andere als selbstverständlich: Noch wenige Jahre zuvor hatte der FC St.Gallen am Abgrund gestanden – sportlich wie finanziell. Der Traditionsclub musste gleich mehrmals gerettet werden. Die Sanierung 1992/1993 unter Leitung von Eugen Mätzler bewahrte den Traditionsclub vor dem Kollaps. Hans Hurni übernahm 1993 das Vereinspräsidium. Ein Beirat wurde ein-gesetzt. Doch die finanziellen Probleme blieben drückend; 1995 wurde dem FCSG die Lizenz im ersten Anlauf verweigert, damals ein Novum im Schweizer Fussball. Erst nach einem weiteren Schuldenabbau durch Dritte bekam der Club die Spielberechtigung. Sportlich pendelten die «Espen», genannt nach dem früheren Stadion Espenmoos, zwischen Hoffen und Bangen. In den Medien schien der Abstieg in die zweithöchste Liga zeitweise unvermeidlich. Die Niederlage im Cupfinal 1998 gegen Lausanne nach einer 2:0-Führung war eine zusätzliche Enttäuschung.
In der Not suchte der Club, nun unter Präsident Emil Kern, Hilfe im Ausland: Im Sommer 1998 war in den Medien zu lesen, dass der Verkauf des ältesten Fussballclubs der Schweiz an eine italienische Gruppe zur Diskussion stand (es wurde gar von «Mafiosi» gemunkelt). In jener Situation trafen sich die Mitglieder des früheren Beirats. Sie wollten den Verkauf des FCSG verhindern und den damaligen Vereinsvorstand ablösen. Knapp zwei Monate dauerte der öffentlich ausgetragene Machtkampf.
«Als Glücksgriff erwies sich die Wahl von Marcel Koller zum neuen Trainer.»
Ostschweizer Lösung statt Verkauf
Am 28. Oktober 1998 wählten die FCSG-Mitglieder eine völlig neu zusammengesetzte Vereinsleitung und Thomas Müller zum Präsidenten. Der neue Vorstand bestand im Wesentlichen aus Mitgliedern des früheren Beirats. Dazu Thomas Müller: «Wir waren ein starkes Team, jeder hatte ein gutes Netzwerk und unterschiedliches Know-how. Zusammen waren wir bereit, Verantwortung zu übernehmen.»
Peter Stadelmann, Rechtsanwalt und Fussballer, hatte als Sportchef eine sichere Hand beim Zusammenstellen der Mannschaft. Max Hungerbühler, damals Präsident der IHK St.Gallen-Appenzell, brachte Ostschweizer Unternehmer ins Umfeld des FCSG, die sich vorher wenig oder gar nicht für Fussball interessiert hatten. Bill Mistura baute das Marketing neu auf und wurde später CEO des HC Davos. Der Unternehmer Willi German war bereits in der vorherigen Vereinsleitung Finanzchef und übernahm diese Aufgabe auch in der neuen Crew.
Thomas Müller, damals Rechtsanwalt in Rorschach, hatte selbst nie aktiv Fussball gespielt. Er verstand sich als Koordinator, etablierte eine Kultur der offenen Diskussion, fokussierte sich auf das grosse Ganze und strahlte Ruhe aus. Darauf angesprochen sagt er heute: «Wir haben gelegentlich gestritten wie Weltmeister, bis in einer Sache die beste Lösung für den FCSG stand. Danach haben stets alle jeden Beschluss gegen innen und aussen vertreten.» Nach seinem Amtsantritt galt es auch, die Gräben innerhalb des Vereins zuzuschütten. Dazu gehörte die Berufung von Dieter Fröhlich als Finanzchef, Nachfolger von Willi German in dieser Funktion.
Als Glücksgriff erwies sich die Wahl von Marcel Koller zum neuen Trainer Ende Dezember 1998. Der sportliche Erfolg kam nicht sofort – und die neue Vereinsleitung wurde kritisiert, weil sie einen Trainer aus der damaligen Nationalliga B (FC Wil) holte. Aber schon in der folgenden Saison 1999/2000 schaffte der FCSG die Wende vom Abstiegskandidaten zum Spitzenteam und zum sensationellen Meistertitel.
Thomas Müller – fortan ehrfürchtig als «Meisterpräsident» bezeichnet – mahnte im Erfolg öffentlich zur Besonnenheit: «Wir dürfen uns nicht blenden lassen; die wirtschaftliche Konsolidierung muss weitergehen.» Tatsächlich wies der FCSG in der Meistersaison 1999/2000 erstmals seit Langem wieder einen kleinen Gewinn aus. Und in der Saison 2000/2001 verpasste der Verein den zweiten Meistertitel in Folge erst im letzten Spiel.
Bis heute legendär sind die internationalen Spiele im Herbst 2000: das knappe Ausscheiden gegen Galatasaray Istanbul in der Qualifikation zur Champions League, das Weiterkommen gegen Chelsea im Uefa-Cup und das Ausscheiden gegen den FC Brügge in der Nachspielzeit. Auch in den folgenden zwei Jahren spielte der FCSG international.
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Abschied vom Espenmoos
Hans Hurni hatte während seiner Zeit als FCSG-Präsident zusammen mit seinem persönlichen Freund Peter Koller, damals Mitinhaber der HRS, ab 1994 die Idee eines neuen Stadions entwickelt. Der 1991 pensionierte Bankmanager übernahm mit Leidenschaft die Rolle des «Stadionvaters».
Das altehrwürdige Stadion Espenmoos im Osten von St.Gallen war seit 1910 Heimat des FCSG. Mit seiner veralteten Infrastruktur genügte es den Anforderungen des Spitzenfussballs nicht mehr. Die Nationalliga verfügte mehrmals Einschränkungen und Auflagen und drängte auf eine grundlegende Lösung. Anfänglich wurde ein Ausbau des Stadions Espenmoos abgeklärt, die Idee aber bald verworfen. Hans Hurni lud mögliche Investoren zu einem Ortstermin ein und sagte im strömenden Regen: «Geht nicht, schon wegen der Platzverhältnisse im Quartier und wegen der Verkehrsanbindung.» Damit war klar, dass die Lösung einzig im Bau eines neuen Stadions im Westen von St.Gallen liegen konnte, vorzugsweise mit Autobahnanbindung.
Der im Oktober 1998 neu gewählte FCSG-Vorstand nahm den Ball sofort auf. Im Januar 1999 gründeten Hans Hurni für die HRS), Willi German, Max Hungerbühler und Thomas Müller die Stadion St.Gallen AG, um Planung, Finanzierung und Bau der Arena voranzutreiben. Bereits im Herbst 1999 konnten Politik und Bevölkerung für ein neues Stadion überzeugt werden: In der Gallusstadt sprachen sich zwei Drittel der Stimmenden in einer Volksabstimmung für die nötige Umzonung des vorgesehenen Areals in St.Gallen-Winkeln aus. Dieser breite Rückhalt ebnete den weiteren Weg. Die Vision: ein modernes Fussballstadion, kombiniert mit einem Einkaufs- und Freizeitzentrum – ein Leuchtturmprojekt, das Sport und Kommerz vereint und den FC St.Gallen 1879 finanziell auf stabile Beine stellen sollte.
Die Finanzierung des Stadionbaus in der Grössenordnung von 60 Millionen Franken erfolgte ähnlich wie zuvor in Genf und in Basel: In St.Gallen unterstützten Stadt und Kanton das Projekt massgeblich, indem sie das benötigte Bauland der Stadion St.Gallen AG zu äusserst günstigen Konditionen zur Verfügung stellten. Diese verkaufte einen Grossteil des Baulandes an die Investoren der Shopping-Arena und des Möbelhauses Ikea, womit für den Stadionbau die ersten 42,5 Millionen Franken zur Verfügung standen. Wegen einer Projekterweiterung musste die Finanzierung in der Folge nachjustiert werden: Es wurden Sitzplatzoptionen verkauft und die Stadion St.Gallen AG erhöhte das Aktienkapital, womit 4500 Kleinaktionäre quasi Miteigentümer des Stadions wurden. Die Investoren der Shopping-Arena und des Möbelhauses wendeten zusätzlich zum Landkauf mehr als 200 Millionen Franken auf.
«Das neue Stadion war plötzlich das Zuhause eines Zweitligisten.»
Hürden, Debatten und ein langer Atem
Einsprachen und finanzielle Fragen verzögerten den Baustart immer wieder. Umweltverbände warnten – natürlich – vor zusätzlichem Verkehr in der Peripherie. Während sich Verfahren hinzogen, wurde die Geduld der Stadionbefürworter auf die Probe gestellt. 2004 versammelten sich FCSG-Fans zu einer Demonstration im St.Galler Stadtpark, um ihrem Unmut über die Blockade Luft zu machen.
Auch Dieter Fröhlich, Nachfolger von Thomas Müller als FCSG-Präsident, mahnte zur Dringlichkeit: Der St.Galler Fussball brauche das neue Stadion, weil sich der Sport zum Event entwickelt habe – mit Familiensektor, Business-Seats und VIP-Logen. Im altehrwürdigen Espenmoos musste selbst der Hauptsponsor auf einem schlichten Holzsitz Platz nehmen …
Diese provinziellen Verhältnisse sollten endlich der Vergangenheit angehören. Und, so Fröhlich: «Je länger sich der Stadionbau verzögert, desto grösser werden die finanziellen Sorgen des FC St.Gallen.» 2005 erteilten die Behörden endlich die definitive Baufreigabe für das «Projekt West». Bald darauf rollten die Bagger am Autobahnkreuz St.Gallen-Winkeln an und es folgte die Grundsteinlegung. Die Bauarbeiten verliefen dann weitgehend nach Plan.
Der FC St.Gallen wird zur Aktiengesellschaft
Parallel zum Stadionbau nahm Dieter Fröhlich die Gründung der FC St.Gallen AG an die Hand. Die Nationalliga machte den Clubs damals nicht nur laufend grössere Auflagen bezüglich Infrastruktur, sondern drängte sie auch dazu, den Profibetrieb in Aktiengesellschaften auszugliedern.
Auch in diesem Punkt zogen Ostschweizer Fussballfans begeistert mit: Im Zeitpunkt der ersten ausserordentlichen Generalversammlung hielten sage und schreibe 8118 Personen Anteilsscheine der FC St.Gallen AG.
Text: Stephan Ziegler
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer, zVg