«Erika hat alles verändert»

Symbolisch für diesen Wandel steht die konservierte Stubenfliege «Erika», die seit 2015 als Kunstwerk an der HSG ausgestellt ist. Nach dem Auslaufen des Leihvertrags im März 2025 soll das Kunstwerk nun entfernt werden – eine Entscheidung, die eine Debatte über Kunstverständnis, Werte und die Bedeutung von Insekten sowie über die Transformation in der Wirtschaft ausgelöst hat. Ein Gespräch über Doppelmoral, Dialogfähigkeit – und über die Entscheidung, St.Gallen als Standort für unternehmerisches Umdenken zu wählen.
Hans-Dietrich Reckhaus, wie hat Ihre Transformation vom Insektenbekämpfer zum Insektenretter begonnen?
2011 habe ich die St.Galler Künstler Frank und Patrik Riklin beauftragt, eine Kunstaktion zum Markteintritt einer neuen Fliegenfalle zu entwickeln. Doch statt den Auftrag zu lösen, stellten die beiden eine provokative Frage: Wie viel Wert hat eine Fliege für Dich als Insektizidhersteller? Ihre Antwort: Retten statt töten. Gleichzeitig forderten sie mich auf, ich solle mein Geschäftsmodell ändern und zum Insektenretter werden. Aus dieser Konfrontation entstand 2012 die gemeinsame Kunstaktion «Fliegen retten in Deppendorf» …
… die ein ganzes Dorf mobilisierte und eine Fliege namens Erika mit dem weltweit ersten Flugticket für ein Insekt in den Wellness-Urlaub führte.
Genau, und daraus folgte «Insect-Respect». Ich begann, den Wert von Insekten neu zu denken – nicht als Schädlinge, sondern als essenziellen Teil unserer Ökosysteme. Es war ausschliesslich die Konfrontation mit den Künstlern, die mich dazu gebracht hat, mein Unternehmen neu zu denken.
Und trotzdem verkaufen Sie weiter Biozide. Wie erklären Sie diese scheinbare Doppelmoral?
Ich verstehe den Vorwurf. Aber wenn ich aussteige, verändert sich nichts! Nur wenn ich weitermache, kann ich die Branche verändern. Unsere Produkte tragen grosse freiwillige Warnhinweise und Präventionstipps. So schaffen wir Bewusstsein für Insekten. Zusätzlich kompensieren wir die Insektenverluste; wir bieten Lebendfallen an und bauen insektenfreundliche Lebensräume. Wir organisieren wichtige Tagungen, forschen und publizieren Bücher und Filme. Mit Insect-Respect sind wir zur Lobby für Insekten geworden.
«Im Zeitalter des Insektensterbens kann Kompensation nur das letzte Mittel sein.»
Insect-Respect nennt sich «Gütezeichen für ökoneutrale Insektenbekämpfung». Wie lässt sich Ökoneutralität im Biozidgeschäft überhaupt messen?
Wir haben dazu in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern eigene Rechenmodelle entwickelt. Für jedes Produkt berechnen wir die ökologische Auswirkung und kompensieren sie, indem wir insektenfreundliche Lebensräume schaffen, die zur Wiederansiedlung bestimmter Insektenarten beitragen. Ziel unserer Arbeit ist jedoch die Förderung des gesellschaftlichen Bewusstseins für Insekten. Es geht um die Reduktion des Marktes. Im Zeitalter des Insektensterbens kann Kompensation nur das letzte Mittel sein.
Sie arbeiten mit Künstlern, Philosophen, Ökologen. Was bringt Ihnen dieser Dialog?
Sehr viel. Die Ökonomie verstellt uns im Alltag den Blick auf das Wesentliche. Nur der Dialog mit Dritten ermöglicht mir die wirtschaftliche Befreiung, motiviert mich unüblich zu handeln, bestärkt mich im Wissen um Selbstwirksamkeit und ermöglicht erst radikale Antworten auf das Bestehende. Der Dialog mit Frank und Patrik Riklin ist hier das beste Beispiel; ich habe so viel von den beiden St.Galler Künstlern gelernt.
Stichwort St.Gallen: Ihre Firma hat ihren Sitz in der Gallusstadt. Warum?
Ganz einfach: Wir sind in St.Gallen, weil ich mich als HSG-Student in das Appenzeller Land verliebt hatte … Wir haben ja zwei Sitze: Die Produktion geschieht bei der Reckhaus GmbH & Co. KG in Bielefeld, der Vertrieb bei der Reckhaus AG in St.Gallen.
«Nur wenn ich weitermache, kann ich die Branche verändern.»
«Erika» soll nun aus dem HSG-Hauptgebäude entfernt werden.
Das ist zwar schade. Aber auch das gehört zu einem echten Dialog: dass Kunst nicht allen gefällt. Erika war nie bloss ein Objekt, sondern ein Symbol für gesellschaftlichen Aufbruch und sinnhaftes Wirtschaften. Erika hat zahlreiche Asylangebote; es wird andere grossartige Plätze geben. Egal, wo sie ist: Sie wird laut sein.
Die Debatte zeigt aber auch, wie schnell ökologisches Engagement als PR-Massnahme verstanden wird. Wie gehen Sie mit Greenwashing-Vorwürfen um?
Die allermeisten «ökologischen» Engagements sind tatsächlich Greenwashing. Die DNA von Insect-Respect aber heisst: Sinn vor Kommerz. Es geht nicht darum, mit Nachhaltigkeit mehr Geld verdienen zu können. Es geht darum, das Unternehmen als den besten Hebel für die gesellschaftliche Gestaltung zu verstehen. Mit Warnhinweisen und Präventionstipps reduzieren wir den Markt für Insektenbekämpfung, mit Lebendfallen und insektenfreundlichen Lebensräumen fördern wir die Artenvielfalt.
Was bedeutet für Sie unternehmerische Verantwortung heute – auch mit Blick auf die nächste Generation?
Verantwortung heisst, die Ökonomie nur als Mittel zum Zweck zu verstehen. Als Unternehmer muss ich der Gesellschaft soziale und ökologische Mehrwerte bieten. Also nicht möglichst viel Geld verdienen und damit etwas Sinnvolles leisten, sondern möglichst viel Sinnvolles leisten und damit etwas Geld verdienen. Das hat nichts mit nächsten Generationen zu tun, sondern mit Demut und Dankbarkeit für die Gegenwart.
Und was wünschen Sie sich für die Zukunft von Insect-Respect – und von Erika?
Ich wünsche mir, dass ich mit Insect-Respect weiterhin soziale und ökologische Mehrwerte schaffen und somit ein wenig zu einem neuen Kulturmassstab beitragen kann, der Mitgefühl und Nachhaltigkeit heissen sollte anstatt Geld und Konsum. Erika wird hoffentlich weiterhin erzählen, dass wir nicht immer Grösse und Wachstum mit Sinn gleichsetzen. Sie wird weiterhin Mahnerin und Mentorin sein.
Text: Stephan Ziegler
Bild: Leo Boesinger