Verpflichtung

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo
«Ich bitte alle, die ihrem Land gedient haben, DAS positive Foto während ihres Dienstes zu posten. Nur ein Foto. Kopieren Sie den Text und posten Sie ein Foto.»
In den vergangenen Wochen gingen Posts mit diesem Text und einem Foto vom Militärdienst viral auf LinkedIn. Sehr viele ehemalige oder eingeteilte Angehörige der Armee sind diesem Aufruf gefolgt. Dies löste viel Sympathie aus: Solidarität in den Erinnerungen, Dankbarkeit, Stolz. Es gab aber auch einiges an Kopfschütteln.
Diese anekdotische Welle von Posts wird in ein paar Wochen wieder vergessen sein. Sie zeigt aber einmal mehr: Den Homo oeconomicus gibt es nicht.
Der Homo oeconomicus wäre kein Milizler
Der Homo oeconomicus handelt immer so, dass sein Nutzen maximiert wird. Negativ ausgedrückt ist er ein Egoist; positiv gesagt handelt er rational.
Der Homo oeconomicus wird also sicher nicht zwischen acht Monate und drei bis vier Jahre seines Lebens im Militär verbringen – schon gar nicht im besten Alter.
Der Homo oeconomicus schaut, dass er möglichst keinen oder einen kurzen Militärdienst absolviert. Wenn andere die Sicherheit des Landes gewährleisten, gibt es keinen Grund für den Homo oeconomicus, sich darum zu kümmern.
Und trotzdem gibt es eine bedeutende Anzahl Menschen, die freiwillig a) in eine anspruchsvolle Truppengattung ausgehoben werden, b) Unteroffizier, oder gar Offizier werden und c) auch später, wenn sie mitten im Berufsleben sind, immer noch bereit sind, sich während 6 Wochen pro Jahr zwischen zwölf und 18 Stunden am Tag für die Landessicherheit einzusetzen.
Verpflichtung und Mitgefühl
Einer der zeitgenössischen Kritiker des ökonomischen Modells vom Homo oeconomicus ist Amartya Sen, indischer Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph. In seinem Werk «Rationale Dummköpfe» führt er zwei Begriffe gegen das Modell vom Homo oeconomicus ins Feld: Verpflichtung und Mitgefühl.
Mitgefühl bedeutet die Sorge um das Wohlbefinden anderer. Aus Mitgefühl können Menschen laut Sen gegen ihr eigenes Interesse handeln. Menschen, die sich für soziale Projekte engagieren, gehören dazu: Welchen Nutzen habe ich davon, wenn ich am Wochenende am Strand Plastikmüll sammle? Oder für die Gassenküche koche? Klassische Ökonomen werden behaupten, das dabei gewonnene gute Gefühl gehöre eben auch zum Nutzen. Zu einem gewissen Grad mag das sein. Es gibt aber genug Beispiele von echt grosszügigen Menschen, die aus Mitgefühl auf sehr viel verzichten.
Verpflichtung meint etwas noch Unverständlicheres als Mitgefühl. Unter Verpflichtung bin ich, immer noch nach Sen, bereit, eine Handlungsoption A zu wählen, obwohl Handlungsoption B, ebenfalls verfügbar, für mich nützlicher wäre. Ich tue dies aus Gehorsam gegenüber Regeln, die ich absolut akzeptiere. Diese Regeln sind Gesetze oder, weniger juristisch, Werte.
Genau dies zeigen die zahlreichen Posts von Angehörigen der Armee in den letzten Wochen. Vielleicht waren einige wenige aus Eigeninteresse im Militär. Die meisten werden ihrem Land jedoch aus einer Verpflichtung heraus gedient haben. Weil dies mit ihren Werten übereinstimmte, haben sie sich dem Gemeinwohl untergeordnet. Das ist eine Form von Absage an den Homo oeconomicus. Wie erfrischend und begrüssenswert für unser Menschenbild!