Der Marktplatz 22 bekommt eine neue Seele

Text: Simea Rüegg
«Wir beleben das ‘Gesicht von St.Gallen’ neu.» Die Freude und Begeisterung ist Majid Parente und Pascal Brotzer deutlich anzuhören, als sie ihr Konzept vorstellen.
Und tatsächlich: Der Marktplatz 22 ragt markant in Richtung Innenstadt hervor, begrüsst die tausend Busse, die täglich daran vorbeiziehen und die fünftausend Passanten, die zurzeit auf die andere Strassenseite ausweichen müssen.
Dem Gebäude, das früher die «Schmatzinsel» beheimatet hat, wird neues Leben eingehaucht. Genau genommen sind es zwei Bauten, in denen die Agentur Collektiv ihre Vision verwirklicht.
Am Marktplatz 22 und 24 wird ein extrem vielschichtiges Konzept umgesetzt
Für das gesamte Projekt sind die Rückbauten abgeschlossen und zeitgleich mit dem «International Coworking Day» gibt es einen ersten Blick hinter die Kulissen.
Das Haus mit der Nummer 22 bietet eine zentral gelegene, grosse Fläche im Erdgeschoss, deren Bauarbeiten am weitesten fortgeschritten sind. Der möblierte Innenraum schafft eine gemütliche Atmosphäre, eine Esszimmer- und Stubeneinrichtung sind vorhanden.
Eine Etage weiter unten fehlen noch zentrale Elemente; ein Raum ist noch «nackt»
Während sein Nutzen vorerst ein Geheimnis bleibt, ist klar, womit das «Studio» bis zur Eröffnung ausgeschmückt wird. Da gibt es im UG Telefonkabinen, Workshop-Flächen, Arbeitsmöglichkeiten am Pult oder im Sofasessel sowie eine Küche unweit der Eingangstüre oberhalb.
«Hier können sich sogenannte ‘Members’ einmieten», erklärt Co-Founder und CMO Pascal Brotzer den Nutzen der Infrastruktur. Für eine Monatsmiete von 333 Franken ist man dabei, kann jegliches Angebot nutzen und gar das Schaufenster zur Strasse hin bewirtschaften.
Der Ort soll den Begriff «Business-Club» neu definieren, Ökonomen zu Kulturschaffenden bringen und Synergien schaffen. Brotzer zeigt auf: «Wo tauschen sich Leute heute aus, wenn sie weder eine Passion für Golf hegen noch Mitglied bei Rotary sind?» Ganz im Sinne von ihrem Leitbild «people first» knüpft das Studio hier an.
300 Tonnen mehrheitlich leichtes Material wurden während des Rückbaus entfernt – teilweise auch im Zusammenhang mit Denkmalschutz-Arbeiten – und davon ist im Gebäude nebenan reichlich zu sehen. Über fünf Etagen plus eine Attika erstreckt sich viel freier Raum.
In der Mitte erstreckt sich der Liftschacht aus Zeiten des Fast-Food-Imbiss bis nach ganz oben
Noch stehen beladene Holzböcke, Leitern und handliche Fräsen da herum, wo bis Ende März 2024 das fertige Projekt in Tat umgewandelt sein soll:
- Gastronomiebetrieb auf dem Strassenlevel: Das kulinarische Angebot bietet ein Schaufenster für die Ostschweizer Gastronomie. Jeder Mittagstisch wird von einem Händler betrieben. Damit entsteht für eine Pizzeria aus Arbon die Möglichkeit, sich bei potenzieller St.Galler Kundschaft zu präsentieren. Oder lokale Restaurants bekochen ihr Klientel und beleben die Engelsgasse.
- Events neben der Gastronomie: Ein grosser Raum an der Engelsgasse eröffnet Möglichkeiten für Veranstaltungs- und Eventbetrieb. Wer, wo und wie ist offen.
- Coworking in den Etagen eins und zwei: Fünfzehn Büros belegen die ersten Stockwerke und bilden das Coworking-Space. Voll möblierte Arbeitsplätze, die flexibel in Beschlag genommen werden können. Ein Platz lässt sich für einen Tag pro Woche für monatliche 350 Franken mieten.
- Coliving auf dem dritten und vierten Stock: WG+ am Marktplatz bietet Zimmer oder Studios, zwei Einheiten teilen sich jeweils ein Badezimmer. Voll ausgestatte Räumlichkeiten, eine BBQ Terrasse und Community Zonen stehen für das Plus der Coliving-Wohngemeinschaft.
- Wohnung im obersten Teil: Eine 2.5-Zimmer-Wohnung auf dem fünften Stock sowie ein 2.5-Zimmer-Loft in der Attika, mit Nutzung einiger Community Zonen und der Terrasse.
Die verschiedensten Charaktere treffen im Collektiv aufeinander. Insbesondere fürs Coliving «muss man der Typ dafür sein», sagen Parente und Brotzer. Das Collektiv versteht sich als eine Zwischenlösung von Wohnung und Hotel. «Man kommt mit der Bananenschachtel und lebt hier sechs Monate.»
Selbstverständlich gibt man da einen Teil seiner Privatsphäre auf. «Wir sprechen Leute ab etwa 25 Jahren an, die diverse Hintergründe haben.» Der Gedanke an eine Studentenwohnung ist also fehl am Platz. Immerhin hat das Angebot auch seinen Preis.
Die Agentur denke an eine Medizinerin, die sechs Monate im KSSG arbeitet. Oder aber an einen 35-Jährigen, der sich gerade getrennt hat und eine Übergangslösung sucht, um sein Leben neu zu regeln. Und dennoch: «Es gibt weniger eine Zielgruppe, sondern mehr ein Lebensgefühl. Wir schauen, dass die Coliver ‘matchen’.»
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Genau wie bei den Studio-Membern und Coworking-Mieter müssen Parente und Brotzer sich in dem hybriden Prozess erst noch finden
«Wir entscheiden situativ und schauen, wo die Reise hingeht.»
Heute füllt gähnende Leere die Etagen. Lediglich die Visualisierungen untermalt von mündlichen Darstellungen der Verantwortlichen geben eine Vorstellung davon, was das Coworking und –living werden soll. Das Projekt erregt stark den Anschein eines exklusiven Angebots.
Im Sinne von der begrenzten Anzahl an Plätzen trifft das zu, doch CEO & Founder Majid Parente unterstreicht: «Es ist wichtig, den Vergleich zu normalen Büros und Wohnungen zu vermeiden. Wir vermieten nicht bloss Quadratmeter, sondern möblierte, eingerichtete und bewirtschaftete Umgebung.» Im Coworking mieten Nutzer Synergien, im Coliving einen Platz in der Gemeinschaft – das rechne sich im Preis.
Collektiv hebt sich so mit ihrer Idee ab. «Einem Gebäude eine Seele geben, können nicht viele», sagt Brotzer. Genau das setzt sich die Agentur als Ziel. Ihre einzelnen Bereiche sollen anstatt als Teil einer Überbauung als Gesamtheit fungieren – Co-Bereiche eben.
«Alle, egal ob Gastrobesucher, Bewohner oder Büromieter, betreten das Haus durch denselben Eingang. Das schafft Berührungspunkte.» Dasselbe gelte für die Community Zonen. Es geht nicht ums Teilen, sondern um das Einfügen in ein grosses Ganzes.
Das Herzstück des Projekts fruchtete mitunter in der Ideenfindung, die sich zu Pandemiezeiten zugetragen hat
Gedanken der Vereinsamung prägten die Gesellschaft und Homeoffices gehörten zum Alltag. Beim Erwerb des Gebäudes am Marktplatz geisterten bereits erste Vorstellungen in Majid Parentes Kopf herum.
In der Folge deckte sich der Collektiv-Gründer mit Recherchearbeiten zu, begutachtete in detaillierter Manier die Historie der Ex-Schmatzinsel. Der Zeitstrahl datiert zurück ins Jahr 1889 zu einem Gasthof und zieht sich weiter in die Gegenwart über eine Bierhalle und ein Ladengeschäft. Ein roter Faden verbindet jegliche Etappen des «Gesichts von St.Gallen»: Hier treffen sich die Leute.
Mit dem Verständnis seiner Geschichte kann also diesem bedeutsamen Konstrukt eine Seele gegeben werden. Wichtiges Element sind – ganz nach «people first» – die Menschen.