Ostschweiz

Angst vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz

Angst vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz
Stephan Melliger
Lesezeit: 4 Minuten

Die Zunahme der Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen betrug im letzten Jahr 20 Prozent – ein neuer Rekord. Dieser Trend ist strukturell und könnte somit auch in diesem Jahr anhalten. Die Folgen davon sind gravierend und stellen Betroffene und Unternehmen vor grosse Herausforderungen. Ein betriebliches Case Management kann beide Seiten für eine erfolgreiche Rückkehr an den Arbeitsplatz unterstützen.

Text: Nora Lüthi

«Arbeiten ist mehr als nur Geld verdienen. Die Arbeit trägt wesentlich zu unserer Selbstwirksamkeit und unserem Selbstvertrauen bei», erklärt Stephan Melliger, Case Manager am Kantonsspital Winterthur und Leiter des CAS Case Management an der OST – Ostschweizer Fachhochschule.

Die Arbeit kann jedoch schnell einmal zur Belastung werden. Zeitdruck, Unklarheit der Arbeitsaufgaben und Konflikte am Arbeitsplatz sind Faktoren, die dazu beitragen können. Tatsächlich schätzen mehr als ein Viertel der Befragten des Job-Stress-Indexes 2022 ihre gegenwärtige Arbeitssituation als belastend ein.

Während der Covid-Pandemie kamen Unsicherheiten wie Jobverlust, finanzielle Engpässe oder familiäre Probleme zu den gängigen Stressoren hinzu. Viele Erwerbstätige kommen laut Stephan Melliger auch mit der wachsenden Leistungsorientierung und der zunehmenden Eigenverantwortung in der Arbeitswelt nicht mehr zurecht.

Neuer Rekordstand der Arbeitsausfälle

Wird die berufliche oder persönliche Belastung zu gross, kann es zu Arbeitsausfällen kommen. Im letzten Jahr waren die Arbeitsausfälle aufgrund von psychischen Erkrankungen rund 20 Prozent höher als im Vorjahr. Dies bestätigt Andreas Heimer von der Firma PK Rück gegenüber dem «NZZ Magazin».

Seine Auswertung basiert auf Daten von rund 250’000 Angestellten aus 6000 Unternehmen. Ein Nachholeffekt nach der Covid-Pandemie sei auszuschliessen, es handle sich um einen strukturellen Trend. Hinzu kommt, dass die Fälle gravierend sind: Im Durchschnitt beträgt die Dauer der Absenz elf Monate.

Überforderung der Betroffenen reduzieren

Bei gesundheitsbedingten Langzeitabsenzen kann das betriebliche Case Management zum Einsatz kommen. Dessen Ziel ist es, erkrankte oder verunfallte Mitarbeiter wieder in den Beruf zu integrieren. Als Case Manager ist Stephan Melliger mit der betroffenen Person direkt in Kontakt und koordiniert alle involvierten Akteure. Von Versicherungen über Fachärzte bis hin zu Anwälten – schnell einmal sind viele verschiedene Personen an einem Fall beteiligt.

«Das ist eine reine Überforderung für eine Person, die gesundheitlich eingeschränkt ist. Allein kann sie das nicht bewältigen, da braucht es Unterstützung», erklärt Stephan Melliger. Hinzu kommt, dass die beteiligten Akteure ihre eigenen Interessen verfolgen, was für die betroffene Person jedoch nicht immer ersichtlich sei. Das Case Management hilft der Person, dieses System zu verstehen und erarbeitet gemeinsam mit ihr die nächsten Schritte.

Die 100-prozentige Verantwortung für seine Klienten übernimmt Stephan Melliger jedoch nicht: «Wie auf einem Kreuzfahrtschiff ist die betroffene Person der Kapitän oder die Kapitänin und ich bin der erste Offizier.» Als Case Manager nimmt er eine vielfältige Rolle ein: vom Vermittler bis zum Anwalt, der für seine Klientin oder seinen Klienten Partei ergreifen muss.

Jede Person ist anders und braucht daher laut dem erfahrenen Case Manager auch mehr oder weniger Unterstützung: «Das finde ich persönlich sehr spannend. Es ist aber auch eine Herausforderung, allen Klienten gerecht zu werden.»

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Früherkennung lohnt sich für Unternehmen

Nicht nur aufseiten der Betroffenen ist eine Langzeitabsenz eine grosse Herausforderung. Auch die Unternehmen stossen auf Schwierigkeiten, wie beispielsweise hohe Absenzkosten. Diese setzen sich aus direkten Kosten wie Lohnfortzahlung und aus indirekten Kosten wie Überstunden des Teams zusammen.

Unternehmen brauchen laut Stephan Melliger daher zwingend eine Früherkennung. Diese sollte über die Führungskräfte laufen, die dafür gut geschult sein müssen. «Die Vorgesetzten müssen Veränderungen der Leistung und des Verhaltens der Mitarbeiter erkennen, um möglichst früh reagieren zu können», betont er. Eine Früherkennung lohnt sich, denn je länger die Arbeitsunfähigkeit anhält, desto schwieriger wird die berufliche Reintegration.

Nach 60 bis 90 Absenztagen sinkt die Chance der Wiederaufnahme der Arbeit drastisch. Gleichzeitig steigt der Aufwand der Massnahmen, damit die Person wieder arbeitsfähig wird, massiv an.

Kontakt halten und Kommunikation klären

Im Prozess der beruflichen Reintegration ist es wichtig, die Arbeitsfähigkeit schrittweise wieder herzustellen. Dieser Prozess kann idealerweise mit Arbeitsversuchen begonnen werden. Sind diese erfolgreich, wird die Arbeitsfähigkeit zunehmend erhöht.

Das Ziel ist die volle Arbeitsfähigkeit, was jedoch nicht immer eine vollständige Genesung bedeutet. «Das Wichtigste an diesem Prozess ist, dass das Unternehmen und die betroffene Person den Kontakt aufrechterhalten», unterstreicht Stephan Melliger. Eine erfolgreiche Arbeitsintegration hänge stark von der Kommunikation ab. Wenn klar ist, ob und wie die betroffene Person kontaktiert werden möchte, kann vermieden werden, dass sich diese von ihrem Team und Vorgesetzten bedrängt oder vergessen fühlt.

«Ich erlebe immer wieder, dass gestandene Berufsleute grosse Angst vor der Rückkehr zur Arbeit haben», erzählt er. Eine gute Vorbereitung der Betroffenen, Vorgesetzten und des Teams helfe seinen Klienten jedoch, mit einer grösseren Sicherheit an den Arbeitsplatz zurückzukehren.

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