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«Leadership ist kein Ort für Egos»

«Leadership ist kein Ort für Egos»
Lukas Scherer
Lesezeit: 6 Minuten

Lukas Scherer ist Professor für Organisation und Führung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und leitet dort das Institut für Organisation und Leadership (IOL). Er begleitet Unternehmen durch Transformationen und verantwortet Weiterbildungen wie die CAS «KMU-Verwaltungsrat: Digitale Chancen erkennen» oder «Innovatives HR-Management».Im Gespräch erklärt er, woran Führung heute gemessen wird, wie Organisationen wirklich agiler werden.

Lukas Scherer, wenn Sie die aktuelle Führungslandschaft betrachten: Vor welchen grössten Herausforderungen stehen Führungskräfte – und was unterscheidet die wirksamen von den weniger wirksamen?
Die Rolle von Führung war nie einfach, aber heute ist sie besonders komplex: Globalisierung, digitale Transformation, gesellschaftlicher Wandel und neue Erwartungen der Mitarbeitenden verändern die Spielregeln. Die grösste Herausforderung ist die Dynamik des Wandels – er kommt häufiger, schneller und oft radikaler, idealerweise ohne operative Unterbrüche. Was vielerorts fehlt, ist Zeit, Ruhe und Gelassenheit. Wirksame Führungspersonen kennen ihre Stärken und Begrenzungen, bauen bewusst auf starke Teams, lassen sich nicht treiben, hören zu und bleiben neugierig – gegenüber Kunden, Kollegen und Mitarbeitern. Sie erklären das «Warum», setzen klare Rahmen und Spielregeln und schaffen so Orientierung in Unsicherheit. Entscheidend ist die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten: konsequent sein und doch lernoffen; ambitioniert und doch realistisch.

Welche drei Fähigkeiten sollten Führungskräfte in den nächsten fünf Jahren prioritär entwickeln, damit Organisationen in unsicheren Märkten schneller entscheiden und konsequenter umsetzen?
Erstens Präsenz und Achtsamkeit: sichtbar sein, ohne alles selbst zu entscheiden; Zwischentöne erkennen, Klarheit und Ruhe schaffen – besonders dann, wenn es unübersichtlich wird. Zweitens Ausgeglichenheit, Agilität und Resilienz: Nicht immer die schnellste, sondern die stimmigste Entscheidung finden – im Sinne der Kunden, Mitarbeitenden und Stakeholder. Das verlangt Priorisierung, Mut zum Weglassen und die Fähigkeit, Tempo bewusst zu variieren. Drittens Demut und Sinnorientierung: Führung ist keine Bühne zur Selbstverwirklichung, sondern das Zurücknehmen des Egos zugunsten von Team und Organisation. Menschen – nicht nur die jüngere Generation – suchen Sinn, Zugehörigkeit und Entwicklung. Wer das «Warum» erklärt und vorlebt, ermöglicht Verantwortung statt Gehorsam. 

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«Vertrauen und Wertschätzung entstehen nicht per Dekret.»

Führung findet nie im luftleeren Raum statt. Wie verändern sich Strukturen und Entscheidrechte in wirksamen Organisationen – mehr Dezentralität, klarere Rollen, kürzere Entscheidzyklen?
Das Bild vom «luftleeren Raum» ist treffend: Luft steht für Durchatmen, Inspiration, kritisches Hinterfragen – für alle. Organisationen werden wirksam, wenn Verantwortung und Kompetenz dorthin gelangen, wo die Aufgabe gelöst werden kann – und gelöst werden will. Die Führung behält die Gesamtverantwortung für das «Warum», setzt Leitplanken und sorgt für Kohärenz. Pseudo-Agilität entsteht, wenn Rituale die Substanz ersetzen: «Daily Stand-ups» ohne Entscheidungskompetenz, Prozesse, die nur abgespult werden, Fehlervermeidung statt Fehlerlernen. Agilität verlangt Entscheidnähe, klare Rollen, echte Verantwortung und die Haltung, aus Irrtümern schnell und sichtbar zu lernen.

Strukturen reichen nicht, wenn die Kultur nicht stimmt. Was sind die wirksamsten Hebel, um eine Leistungskultur zu etablieren, die Fehlerlernen zulässt und dennoch hohe Qualitätsansprüche durchsetzt?
Vertrauen und Wertschätzung sind zentral – und sie entstehen nicht per Dekret. Sie wachsen durch gemeinsames Denken und Tun, durch gemeisterte Herausforderungen, durch klare Prinzipien und Haltungen. Gute Führungspersonen leben Vorbild, würdigen Leistung, fragen interessiert nach und geben verständliches Feedback – auch bei Nichtzielerreichung. Kultur heisst, Regeln und Verhalten so abzustimmen, dass Leistung und Lernen sich gegenseitig verstärken.

Viele Unternehmen investieren in Datenplattformen und KI. Wie lässt sich KI in Entscheidungen integrieren, ohne sich von Algorithmen treiben zu lassen?
Das Zusammenwirken menschlicher und künstlicher Intelligenz ist sinnvoll – vorausgesetzt, es wird reflektiert gestaltet. Verlockend ist, bei anspruchsvollen Fragen rasch auf KI-Antworten zu setzen; diese sind oft anregend, umfassend, lehrbuchhaft. Das Risiko: Unkritische Übernahme ohne Kontextverständnis. Kontext, Persönlichkeit, Interessen, Stärken und Schwächen des Gegenübers können beim Prompten leicht untergehen. Sinnbildlich gefällt mir die Aussage von Sundar Pichai, CEO Google: Für die Planung einer Geburtstagsfeier frage ich die KI; bei einer Therapiesuche für ein krebskrankes Kind frage ich zusätzlich Menschen. KI ist Werkzeug, nicht Weisungsgeber. Sie erweitert Perspektiven – den Entscheid verantworten weiterhin Menschen.

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Neben Führung geht es um Unternehmertum. Was macht gutes Entrepreneurship bzw. Intrapreneurship aus?
Im Kern geht es darum, Neues zu schaffen und wirksam zu etablieren. Entrepreneure tragen volle Verantwortung und persönliche Risiken – oft mit eigenen Mitteln. Intrapreneure bewegen sich im «geschützten» Rahmen bestehender Organisationen, setzen aber Reputation und Karriere aufs Spiel. Wichtig sind in beiden Fällen: eine tragfähige, skalierbare Geschäftsidee, «freedom to operate» (Schutzrechte Dritter sind geklärt), Denken in Varianten, Design Thinking, Kundenverständnis, Testen und Evaluieren. Notwendig ist Frustrationstoleranz – was in klassischer Führung Resilienz heisst. Unterschiede in Motivation und Risikoneigung gibt es; führungsseitig zählen eher die Gemeinsamkeiten: Zusammenarbeit über Funktionen hinweg, Stakeholder einbinden, Tempo und Risiko dosieren.

Veränderungsprozesse scheitern häufig. Was erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit von betrieblichem Wandel und Innovationsprojekten?
Change ist breit untersucht – Lewin, Kotter, Krüger, Senge, neuere Lean- und Agile-Change-Ansätze. Auf den Punkt gebracht braucht es drei Kernelemente: Sachlich-fachliche Arbeitspakete, die wirklich zum Problem beitragen, statt nur Aktivität zu erzeugen. Dann Menschen – intern und extern, direkt Betroffene und zu Beteiligende – mit Blick auf Motivation (Wollen) und Fähigkeiten (Können). Emotionen und das Erkennen des «Warum» spielen die Hauptrolle. Und last, but not least Kommunikation über alle Phasen: zuhören, verstehen, erklären, unterstützen, schulen, Feedback geben, dranbleiben und verstetigen. Wesentlich ist die Brücke zwischen Transformation und Tagesgeschäft. Wandel darf das Kerngeschäft nicht erdrücken; umgekehrt darf das Kerngeschäft den Wandel nicht ersticken. Hier entscheidet der Fokus: Was muss heute laufen – und was muss sich heute bereits verändern, damit morgen noch etwas läuft?

Welche Rolle spielt das Middle Management, um Strategie in den Alltag zu übersetzen, Widerstände produktiv zu machen und Change-Müdigkeit zu vermeiden?
Das Middle Management ist heute stärker gefordert denn je. Es wirkt als Scharnier zwischen Alltagsgeschäft und Veränderungsprogramm, hält das Kerngeschäft stabil und soll zugleich Neues vorantreiben. Dieses Ambidextrie-Dilemma (Exploitation vs. Exploration) erzeugt Druck, Unsicherheit und Widerstände. Benötigt werden Change Agents mit Prozessmoderations- und Kommunikationskompetenz und genügend Fachexpertise, damit sie ernst genommen werden. Unverzichtbar ist das Commitment des Topmanagements. Wirksam werden die eingangs genannten Haltungen: Präsenz (achtsames Zuhören, Klarheit), Gelassenheit (Ruhe, Resilienz), Sinnorientierung (Demut, Servicedenken). So gelingt Übersetzung: aus strategischen Absichten konkrete Schritte mit klarer Verantwortlichkeit.

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«Wesentlich ist die Brücke zwischen Transformation und Tagesgeschäft.»

Kommen wir zur Aus- und Weiterbildung: Wie müssen Leadership-Programme und ein MAS/EMBA aufgebaut sein, damit Teilnehmer nicht nur Wissen aufnehmen, sondern in ihren Unternehmen messbare Resultate erzielen?
Wirksam ist ein Programm, wenn Transfer gelingt – für die Person und für die Organisation. Inhalte müssen halten, was sie versprechen, und einem roten Faden folgen. Praxis- und lehrerfahrene Dozierende vermitteln Stoff und beziehen die Teilnehmenden ein; sie werden laufend evaluiert. Lehrmittel sind inspirierend und digital zugänglich. Real-Life-Cases mit Transferaufgaben verankern das Lernen im Alltag. Formate wie Bar Camps, Kamingespräche oder Outdoor-Blöcke öffnen den Blick, eine heterogene Teilnehmerschaft erweitert die Perspektiven. Alumni- und ERFA-Gruppen sichern Wirkung über den Lehrgang hinaus. Leistungsnachweise sollten auf betriebliche Anliegen einzahlen – idealerweise mit Interesse und Unterstützung der Vorgesetzten, damit Erkenntnisse sichtbar und Folgeschritte eingefordert werden.

Zum Schluss: Wie unterstützt das IOL-OST Firmen in der Ostschweiz konkret?
Das IOL-OST versteht sich als Brückenbauer zwischen Wissenschaft und Praxis. Wir arbeiten mit aktuellen, wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen, bearbeiten gemeinsam mit Wirtschaft und Gesellschaft praxisrelevante Fragen und übersetzen die Resultate in handhabbare Empfehlungen, Leitfäden und Publikationen. Wir stehen Einzelpersonen, KMU und öffentlichen Verwaltungen als Coach, Berater, Projektleiter und Referent zur Seite. Inhaltlich fokussieren wir auf vier Leitfragen: Geschäftsmodelle: Wie lassen sie sich innovativ gestalten? Organisation: Wie entwickelt sie sich nachhaltig weiter? Performance & Qualität: Wie steigern wir Wirkung und Prozessqualität?Und last, but not least: Leadership & Schlüsselrollen: Was macht wirksame Führung in einer digitalen Welt aus? Unser Anspruch ist praktische Wirksamkeit: Erkenntnisse übersetzen, gemeinsam erproben, messbar machen – und so Organisationen stärken, die ihre Zukunft proaktiv gestalten.

Text: Stephan Ziegler

Bild: Rebekka Grossglauser

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