Wirtschaft

Medtech-Branche: Tickende Bombe

Medtech-Branche: Tickende Bombe
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Rund 27 Prozent aller Schweizer Unternehmen aus der Medizintechnik-Branche befinden sich in der Ostschweiz. Somit ist sie ein nicht unwesentlicher Teil der hiesigen Wirtschaft. Nach dem Scheitern der Verhandlungen über das Institutionelle Abkommen mit der Europäischen Union hat die Branche allerdings keinen barrierefreien Zugang mehr zum EU-Binnenmarkt. Die einen blicken dennoch positiv in die Zukunft, andere eher weniger.

Insgesamt 360 Medtech-Unternehmen befinden sich im Raum Ostschweiz, in denen rund 14 550 Menschen beschäftigt sind. Seit dem 26. Mai 2021 müssen diese Unternehmen erhöhte Anforderungen für den Export von Medizinprodukten in die EU erfüllen. Im Wesentlichen sind dies die Benennung eines Bevollmächtigten im EU-Raum, der stellvertretend Herstelleraufgaben wahrnimmt (inkl. Produkthaftung) sowie die entsprechende Neubeschriftung der Produkte. Gleichzeitig wurde das Schweizer Medizinproduktrecht der EU-Medizinproduktverordnung MDR (Medicine Device Regulation) angepasst.

«Vom Switzerland Innovation Park Ost erwarte ich zusätzliche Impulse.»

«Neue Verordnung ist ein Monster»

Nicht glücklich darüber ist Thomas Köppel, CEO der This AG in Heerbrugg, die in der Entwicklung, der Fertigung und dem Vertrieb von hochwertigen Medizinsystemen tätig ist. Es gebe nun mehr Aufwand für den Export und auch für den Import, den ihm niemand bezahlen würde, sagt Köppel. Gekoppelt mit der neuen Medizinproduktverordnung sei der Aufwand nun erheblich. Doch nicht nur Mehraufwand und Kosten machen ihm zu schaffen: «Die Verordnung ist ein Monster. Sie verhindert nicht nur Innovationen, sondern lässt auch Nischenprodukte verschwinden, die zu wenig Umsatz bringen und daher für viele Hersteller mit dem enormen administrativen Aufwand nicht mehr rentabel sind.»

Die This AG hat vor gut einem Jahr in weiser Voraussicht in Österreich eine Tochterfirma gegründet, die nun als Bevollmächtigte im EU-Raum fungiert. Im Sommer 2020 hat das Unternehmen zudem das MDR-Audit erfolgreich bestanden. Somit sei man gut vorbereitet, sagt Köppel. Aber: «Es gibt sehr viele Firmen, insbesondere KMU, die diese Hürde immer noch unterschätzen und somit eine schwierige Zukunft im Medtech-Bereich haben werden.» Wer sich nicht rechtzeitig um die Anpassung im QM-System und die Zulassungsdokumentation für seine Produkte bemüht, kann diese spätestens ab 2024 nicht mehr in die EU liefern. «Da tickt eine Bombe», warnt Köppel.

«Wenn wir an unserem Wohlstand festhalten wollen – und der ist vom Export in die EU längerfristig für alle Branchen abhängig –, dann muss rasch gehandelt und die Verhandlung mit der EU wieder aufgenommen werden. Lieber gut verhandeln als am Schluss nur noch den EWR- oder den EU-Beitritt als Option übrig zu haben», ist Thomas Köppel überzeugt.

 

Es braucht Planbarkeit und Transparenz

Ähnlich sieht man die Situation bei der Mediconsult AG. Das Unternehmen aus Roggwil ist Gesamtanbieter chirurgischer und diagnostischer Produkte für Augenärzte, Optometristen und Optiker. «Wir sind primär ein importierendes Unternehmen und gut vorbereitet, um diese neue Herausforderung erfolgreich bewältigen zu können. Es ist jedoch naheliegend, dass kleinere Unternehmen Mühe haben werden, die steigenden Aufwände kostendeckend betreiben zu können. Wir gehen daher mittelfristig von einer Konsolidierung der Markteilnehmer bei gleichzeitiger Abnahme der Produktvielfalt aus. Für die Ostschweiz – als Heimat vieler KMU – eine ungünstige Entwicklung», sagt Mediconsult-CEO Thomas Sammer.

Als Reaktion auf den steigenden Verwaltungsaufwand will die Mediconsult neue Arbeitsplätze im Qualitätsmanagement schaffen. «Wer für diesen zusätzlichen Aufwand am Ende aufkommen wird, ist jedoch noch unklar», so Sammer.

Von Politik und Behörden fordert Sammer in erster Linie Planbarkeit und Transparenz, die Grundpfeiler für ein stabiles Wirtschaftsumfeld. Weiter ist für ihn eine enge Zusammenarbeit mit den Bildungseinrichtungen notwendig, um in Bereichen mit steigender Nachfrage (QM, IT, Servicetechnik, Medizin etc.) eine solide Ausbildung mit lokalem Angebot zu gewährleisten. «Als sehr positiv für die Region erachten wir beispielsweise den Joint Medical Master in St.Gallen sowie das Medizintechnikangebot des Bildungszentrums für Technik in Frauenfeld. Wir wünschten uns weitere solche Initiativen.»

«Unsere Industrie hat schon mehrere Krisen durchgestanden.»

Hoffnung auf Gespräche mit EU

Die Ostschweiz ist das Zuhause einer Vielzahl von Medizintechnik-Herstellern und -Zulieferern, die historisch aus der Präzisions- und Maschinenindustrie gewachsen sind und ihre Kompetenzen zugleich auch in anderen Feldern wie Metallverarbeitung, Präzisionsmechanik oder Apparatebau haben. Aus diesem Grund und weil das Risiko des Scheiterns des institutionellen Rahmenabkommens schon seit längerer Zeit bekannt war, erwartet Marcel Räpple, Leiter der Thurgauer Wirtschaftsförderung, bei den Thurgauer Unternehmen keine kurzfristigen Veränderungen. «Die hier ansässigen Industrien haben schon mehrere Krisen wie die Währungs- oder Finanzkrise durchgestanden, ohne dass sie sich zu ‹Kurzschlusshandlungen› hätten hinreissen lassen», erklärt er.

 Sowohl die Thurgauer Behörden als auch die Unternehmen würden grosse Hoffnungen in die gegenwärtigen Gespräche mit der EU sowie die Aussicht auf Freihandelsabkommen mit neuen Exportmärkten setzen, sagt Räpple weiter. Er ist überzeugt, dass es auch neue Lösungen geben wird in Bezug auf den internationalen Forschungsplatz Schweiz, für die Anstellung ausländischer Fachkräfte und die Export- und Importbedingungen.

  Marcel Räpple geht zudem davon aus, dass der Wirtschaftsstandort Ostschweiz bei allfälligen Umstrukturierungsgedanken einzelner Firmen punkten wird. Insbesondere, wenn es um Qualität, Präzision, Zuverlässigkeit und Stabilität geht. «Wir werden uns deshalb weiterhin für diejenigen guten Rahmenbedingungen einsetzen, die wir als Kanton mitbeeinflussen können.»

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Innovationskraft als Vorteil

Im Kanton St.Gallen ist der Medtech-Bereich Teil der überdurchschnittlich stark vertretenen Präzisionsindustrie. Je nach Definition lassen sich heute rund 60 Unternehmen mit drei und mehr Mitarbeitern der Medtech-Industrie zuordnen. Darunter befinden sich auch zwei der drei Finalisten des diesjährigen Swiss Medtech-Awards: die Galvo Surge Dental AG aus Widnau sowie die Icotec AG aus Altstätten. «Das unterstreicht die Innovationskraft hiesiger Medtech-Unternehmen, was auch als entscheidender Standortfaktor für Investoren gewertet werden kann – und längerfristig die Branche stärken sowie deren volkswirtschaftliche Bedeutung erhöhen dürfte», ist Daniel Müller, Leiter der kantonalen Standortförderung überzeugt.

Als Standortfaktor sieht Müller auch die hohe Innovationskraft, die für den Medtech-Sektor kennzeichnend ist. «Mit Blick auf die Region erwarte ich diesbezüglich vom Switzerland Innovation Park Ost, der sich schwerpunktmässig auch auf den stark wachsenden Markt für Gesundheit fokussiert, für die Zukunft zusätzliche Impulse.» Auf die neue Situation hätten sich die meisten Hersteller im Kanton St.Gallen vorbereitet. «Sie beurteilen sie allerdings als aufwendig und wünschen sich zeitnah konstruktive Gespräche und zukunftsorientierte Lösungen.»

Unternehmen könnten abwandern

Im Kanton Appenzell Ausserrhoden gibt es nur eine kleine Anzahl Medtech-Unternehmen im klassischen Sinn. «Jedoch verfügen wir über zahlreiche Unternehmen, die im erweiterten Sinne der Medtech-Branche in unserem Kanton tätig sind, beispielsweise als Zulieferer oder Dienstleister», erklärt Daniel Lehmann, Leiter des Amtes für Wirtschaft und Arbeit. Diese Unternehmen bilden eine wichtige Säule für die wirtschaftliche Bedeutung des Kantons. «Gerade Appenzell Ausserrhoden hat im Gesundheitsbereich eine lange Tradition. Diese geschichtliche Vergangenheit ist auch der Grund für die Wichtigkeit und die wirtschaftliche Bedeutung der Medtech-Branche bei uns», so Lehmann.

Auch er sieht die Auswirkungen des gescheiterten Rahmenabkommens für die Unternehmen in der Ostschweiz negativ – vor allem den nun wesentlich höheren Administrationsaufwand. «Aufgrund des kleinen Schweizermarktes im Vergleich zu den anderen Märkten ist zudem nicht ausgeschlossen, dass gewisse Medtech-Produkte gar nicht oder nur mit einem entsprechenden Preisaufschlag in die Schweiz geliefert respektive mit einem Preisabschlag aus der Schweiz exportiert werden können», befürchtet Lehmann. Diese Situation stelle die Medtech-Firmen vor grosse Herausforderungen und bedeute eine hohe Planungsunsicherheit, verbunden mit einem deutlich höheren Dienstleistungsaufwand.

Solange die Unternehmen ihre Leistungen und Produkte noch zu wettbewerbsfähigen Bedingungen auf dem Markt verkaufen können, sei der Mehraufwand für den Grossteil der Unternehmen wohl noch verkraftbar. «Wenn dies aufgrund von regulatorischen Auflagen und Einschränkungen aber nicht mehr möglich ist, müssen sich die betroffenen Unternehmungen überlegen, welche Massnahmen zu ergreifen sind, um auch künftig wettbewerbstauglich zu bleiben. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass Unternehmen oder Unternehmenssparten ins Ausland verlegt werden», sagt Daniel Lehmann.

  

«Es hängen erstaunlich viele Arbeitsplätze von Medtech ab.»

Bevölkerung sensibilisieren

Auch im Kanton Appenzell Innerrhoden ist Medtech keine dominierende Branche, es hängen gemäss Markus Walt, Leiter des Innerrhoder Amts für Wirtschaft, aber «erstaunlich viele Arbeitsplätze davon ab». Dies, weil bei einzelnen grösseren Industriebetrieben die Medtech-Bereiche unterdessen sehr dominant wären. Wegen der kleinen Anzahl von Betrieben in dieser Branche könne man jedoch keine generelle Aussage über den Zustand des ganzen Segments machen, so Walt. Die Auswirkungen des gescheiterten Rahmenabkommens für die Unternehmen sieht Walt eher negativ. «Wie schwerwiegend die Probleme sein werden, hängt davon ab, ob Lösungen gefunden werden können – bzw. EU-seitig gefunden werden wollen.» Neben der stetigen Verbesserung der Standortfaktoren wird gemäss Walt auch die Sensibilisierung der Bevölkerung für dieses Thema immer wichtiger. «Grund dafür ist der Druck, der nicht nur von den grossen und mächtigen ausländischen Staaten wie den G7 oder der OECD herrührt, sondern auch im eigenen Land erzeugt wird. Er entspricht in weiten Teilen der Bevölkerung dem Zeitgeist.»

Kein Cluster, aber gut vernetzt

Um sich in einem immer komplexeren wirtschaftlichen Umfeld behaupten zu können, hilft bekanntlich ein gut funktionierendes Netzwerk. Ein eigentlicher Medtech-Cluster, der von den Kantonen aktiv gefördert wird, existiert in der Ostschweiz allerdings nicht. Die meisten Unternehmen organisieren sich über den nationalen Verband Swiss Medtech. Es bestehe aber eine gute Vernetzung über die bestehenden Wirtschaftsverbände, heisst es bei den Kantonen. Seit Ende 2020 gibt es zudem das Netzwerk «St.Gallen Health», das von der Stadt St.Gallen initiiert wurde und in dem aktuell über 20 Institutionen aus Wirtschaft, Forschung und Bildung zusammenarbeiten.

Und last, but not least ist auch der überschaubare geografische Raum von Vorteil: Forschungseinrichtungen, Universitäten, Fachhochschulen, Lieferanten und Kliniken mit weltweit anerkanntem Renommee sind in der Ostschweiz innerhalb kürzester Zeit erreichbar.

Text: Patrick Stämpfli

Bild: Marlies Thurnheer

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