Wie Unterstützung zum Wirtschaftsfaktor wird
Nach seinem Schädel-Hirn-Trauma im Jahr 2022 geriet das Leben des ehemaligen St.Galler Regierungsrates Fredy Fässler von einem Moment auf den anderen aus den Fugen: Wochen in der Reha, Monate der Unsicherheit, eine Familie, die plötzlich rund um die Uhr gefordert ist – und danach die Frage: Wie geht es weiter, wenn die Klinik entlässt, aber die Normalität noch weit entfernt ist?
Fässler hat diese Phase selbst durchlebt. «Mein Unfall hat mir mit aller Deutlichkeit gezeigt, welchen ungeheuren Belastungen Angehörige ausgesetzt sind», sagt er. Seine Ehefrau und Kinder mussten die schwierige Situation damals in kurzer Zeit weitgehend alleine bewältigen, da keine Unterstützung vorhanden war. Heute engagiert sich Fässler als Botschafter für Viv – das Ostschweizer Kompetenzzentrum für Menschen mit einer Hirnverletzung oder Körperbehinderung – und für dessen Projekt «Lotse», das genau dort ansetzt, wo viele nach der Reha alleine gelassen werden.
«Für Unternehmen kann sich ein Engagement auf mehreren Ebenen lohnen.»
Begleitung statt Überforderung
«Lotse» begleitet Betroffene und Angehörige langfristig, individuell und kostenlos. Ziel ist es, die Lücke zwischen Spital, Reha und Alltag zu schliessen. Geschulte Fachleute helfen, den Überblick über Therapien, Behörden, Versicherungen und Finanzen zu behalten, koordinieren Anlaufstellen und vermitteln Kontakte. Für viele Familien bedeutet das eine spürbare Entlastung – emotional, organisatorisch und finanziell.
Fredy Fässler weiss, wie entscheidend dieser Beistand ist. «Bis zur Entlassung hatte ich eine professionelle Betreuung. Danach mussten wir uns alleine mit Unsicherheiten, Einschränkungen und neuen Diagnosen auseinandersetzen», erzählt er. «Lotse» könne hier nicht nur Sicherheit geben, sondern auch Struktur schaffen, wo Überforderung droht.
Hinter dem Projekt steht eine enge Zusammenarbeit von Viv aus St.Gallen mit Fragile Suisse, der nationalen Patientenorganisation für Menschen mit Hirnverletzungen. Gemeinsam bringen die beiden Organisationen Fachwissen, Erfahrung und Netzwerke zusammen. Ziel ist, Betroffenen und Angehörigen einen konstanten Ansprechpartner zu bieten, der Orientierung, Begleitung und Stabilität schafft – unabhängig von Wohnort, sozialem Status oder finanzieller Situation.
Entlastung auch für Betriebe
Das Angebot hat weitreichende Folgen – nicht nur für Betroffene und ihre Familien, sondern auch für die Wirtschaft: Viele Menschen mit Hirnverletzungen sind im Erwerbsalter. Wenn sie nach einem Unfall oder einer Erkrankung ausfallen, betrifft das auch Arbeitgeber, Teams und Kundenbeziehungen. Eine koordinierte Unterstützung, wie sie «Lotse» bietet, kann helfen, Mitarbeiter schneller und nachhaltiger wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren.
Fässler sieht hier grosses Potenzial: «Unternehmen können Teil der Lösung sein, indem sie Betroffene anstellen, Integration ermöglichen oder sich finanziell engagieren.» Denn erfolgreiche Wiedereingliederung entlaste nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch Betriebe, durch geringere Ausfallkosten, stabilere Belegschaften und eine stärkere soziale Bindung im Team.
Viv ergänzt das Angebot durch «Viv Cavere – Begleitetes Arbeiten», das Betroffene mit Job-Coaches gezielt bei der Rückkehr in den Beruf unterstützt. Diese begleiten sowohl Angestellte als auch Vorgesetzte, helfen bei der Gestaltung angepasster Aufgaben und sorgen dafür, dass Integration im Betrieb gelingt. So entstehen nicht nur soziale, sondern auch ökonomische Mehrwerte: Unternehmen behalten wertvolle Fachkräfte, und Betroffene gewinnen Schritt für Schritt Sicherheit, Routine und Lebensqualität zurück.
«Jede Unterstützung, ob finanziell, personell oder durch Offenheit im Betrieb, macht einen Unterschied.»
Gesellschaftliche Aufgabe mit ökonomischem Nutzen
Dass «Lotse» kostenlos ist, macht die Finanzierung anspruchsvoll. Unterstützt wird das Projekt von Spenden, Stiftungen und engagierten Partnern. Für Fredy Fässler ist klar: «Das ist nicht alleine eine private Aufgabe. Politik und Gesellschaft müssen mithelfen, damit solche Angebote langfristig bestehen können.» Der Grundsatz «berufliche Integration vor Rente» gelte auch hier und sei letztlich eine Investition in Stabilität, Selbstbestimmung und Produktivität.
Auch für Unternehmen kann sich ein Engagement auf mehreren Ebenen lohnen: Wer soziale Verantwortung übernimmt, stärkt seine Arbeitgebermarke, fördert Motivation und Loyalität der Belegschaft und positioniert sich glaubwürdig im Umfeld von Corporate Social Responsibility. Gerade im Fachkräftemangel gewinnen solche Werte an Bedeutung.
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Wie Unternehmen helfen können
Unternehmer und Führungskräfte, die das Projekt «Lotse» unterstützen möchten, haben verschiedene Möglichkeiten: Sie können mit einer einmaligen oder mit regelmässigen Spenden zur Finanzierung der kostenlosen Begleitung beitragen. Ebenso wertvoll ist eine längerfristige Partnerschaft, etwa durch die Übernahme von Patenschaften für Betreuungsfälle oder durch zweckgebundene Beiträge, welche die Arbeit der Fachleute sichern.
Auch auf betrieblicher Ebene gibt es konkrete Ansatzpunkte: Firmen können Praktikumsplätze, angepasste Arbeitsstellen oder temporäre Einsätze für Betroffene anbieten. Solche Integrationsarbeitsplätze schaffen reale Chancen für den Wiedereinstieg und tragen zugleich dazu bei, Vorurteile abzubauen. Ferner besteht die Möglichkeit, Viv bei der Sensibilisierung der eigenen Mitarbeiter zu unterstützen – etwa durch Workshops oder interne Informationsveranstaltungen zum Thema Hirnverletzung und Rückkehr an den Arbeitsplatz.
Ostschweizer Angebot mit Signalwirkung
Fredy Fässler ist überzeugt: «Jede Unterstützung, ob finanziell, personell oder durch Offenheit im Betrieb, macht einen Unterschied. Am Ende profitieren alle – Betroffene, Unternehmen und die Gesellschaft.» Mit «Lotse» hat Viv ein Angebot geschaffen, das zeigt, wie gesellschaftliche Verantwortung, Gesundheit und Wirtschaft ineinandergreifen können. Das Projekt entlastet Familien, stabilisiert Unternehmen und trägt dazu bei, dass Menschen nach einem schweren Einschnitt ihren Platz im Leben wiederfinden – in der Gesellschaft, im Beruf und in sich selbst.
Text: Stephan Ziegler
Bild: Marlies Beeler-Thurnheer