Wirtschaftsraum Thurgau

Nicht alle stören sich am Apfelimage

Nicht alle stören sich am Apfelimage
Christian Neuweiler
Lesezeit: 5 Minuten

Für Hermann Hess ist klar: Der Thurgau muss weg vom Apfelimage und verstärkt die boomende Wirtschaftsregion Bodensee vermarkten, um in der restlichen Schweiz wahrgenommen zu werden. Gewerbe und Industriesehen es weniger dramatisch. «Wir haben hier sicherlich Nachholbedarf», sagt etwa IHK-Präsident Christian Neuweiler. «Das hat aber nichts mit dem Apfel und der Landwirtschaft zu tun.»

 

Der Thurgauer Unternehmer Hermann Hess ärgert sich seit Längerem über das Apfelimage seines Kantons. «Wir sind viel mehr als ein Apfelkanton», sagt der ehemalige FDP-Nationalrat in einem Interview mit der «Thurgauer Zeitung» vom 20. September 2021. Leider aber trage der Thurgau selbst viel dazu bei, um in Bern und der restlichen Schweiz nicht ernst genommen zu werden. «Man verkauft sich als Apfelkanton, statt als Teil der boomenden Wirtschaftsregion Bodensee», kritisiert Hess. «Das ist angesichts der geringen Wertschöpfung der Landwirtschaft ein schwerwiegender Fehler.»

Verkauft sich der Thurgau wirklich so schlecht?

Christian Neuweiler ist Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Thurgau. Er kann die Kritik von Hermann Hess in «einigen Punkten» nachvollziehen. «Wir haben tatsächlich Nachholbedarf», sagt er. «Das hat aber nichts mit dem Apfel und der Landwirtschaft zu tun.» Für ihn «beisst» sich die technologische Entwicklung des Kantons nicht mit der Landwirtschaft. «Die Landwirtschaft schafft die Grundlage für unser Leben, nämlich dass wir genug zu essen haben. Der Umstand, dass wir einen hohen Landwirtschaftsanteil in unserem Kanton haben, sollte unser Selbstbewusstsein eher stärken als schwächen», sagt er. Die Landwirtschaft stehe, wie der Rest der Wirtschaft, auch vor einem Transformationsprozess. Ob für die Landwirtschaft im Kanton zu viel ausgegeben werde, wie Hess moniert, kann Neuweiler nicht beurteilen. «Aber nehmen wir an, es kommt eine Krise, bei der die Nahrungsmittelketten durchbrochen werden, dann sind wir froh, wenn wir auf den naheliegenden Bauernhöfen etwas zu essen bekommen. Es wird dann auch keiner mehr fragen, ob das zu viel gekostet hat.» Für den IHK-Präsidenten kommt es allerdings nicht nur darauf an, wie man sich verkauft. «Auch die inneren Werte müssen stimmen», sagt er. «Eines unserer Probleme ist nach wie vor, dass ein Drittel unserer erwerbstätigen Bevölkerung ausserhalb des Kantons ihrer beruflichen Tätigkeit nachgeht. Wir brauchen noch mehr Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung für Spezialisten.» Hierfür werde eine engere Zusammenarbeit mit den Universitäten, Fachhochschulen und Forschungsanstalten im Raum Thurgau und St.Gallen, aber auch in Konstanz benötigt. «Wir brauchen einen Digitalisierungsschub, und der kann nur zusammen mit diesen Bildungseinrichtungen erreicht werden», sagt Neuweiler.

 

  

Eine gesunde Mischung

Ganz so düster wie Hermann Hess sieht es auch Hansjörg Brunner, Präsident des Thurgauer Gewerbeverbands, nicht. «Wir werden in der übrigen Schweiz sicher nicht nur als Apfelkanton wahrgenommen, sondern auch als sehr innovativer Technologie- und Wirtschaftsstandort», ist er überzeugt. «Man nimmt uns und unsere Anliegen ernst. Auf politischer Ebene sorgen dafür nicht zuletzt auch unsere Parlamentarier», so der ehemalige FDP-Nationalrat.

«Wir werden in der übrigen Schweiz sicher nicht nur als Apfelkanton wahrgenommen.»

Gleichzeitig kann er die Überlegungen seines Parteikollegen nachvollziehen. «Für mich geht es um eine gesunde Mischung. Der Apfel und die Landwirtschaft, die in unserem Kantaon traditionell hohes Ansehen geniessen, sind starke und sympathische Symbole. Sie sind ein wichtiger Teil. Wie viel die Landwirtschaft uns wert ist, liegt allein an uns.» Ebenso wichtig sei allerdings eine prosperierende Wirtschaft. Und über eine solche verfüge der Kanton Thurgau glücklicherweise – dank verschiedener herausragender Unternehmer. «Mit seinen Aussagen will Hess aufrütteln. Er ist ein Macher, sein Tempo können und wollen nicht alle mitgehen», sagt Brunner. Als Präsident des Thurgauer Gewerbeverbandes, der schon die verschiedensten Werbekampagnen lanciert oder mitgetragen habe, wisse er aber, dass «wir den Thurgau und seine vielen herausragenden Vorteile nicht nur mit Äpfeln bewerben». Brunner kann verstehen, dass sich der Bauernstand über die Kritik von Hess aufregt. «Aber lassen wir die Kirche im Dorf. Gerade jetzt, in der Pandemie, haben wir ganz andere Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.» Auch IHK-Präsident Christian Neuweiler sieht in der Vermarktung des Kantons mit dem Apfel keinen Widerspruch zu einer starken, innovativen Wirtschaft. «Der Apfel ist etwas Kraftvolles. Er hat viele Vitamine, ist gesund und schmeckt erst noch gut. Er ist somit auch ein Symbol für eine prosperierende Wirtschaft.»

 

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«Es braucht eine Weichenstellung, um ein neues Selbstbild zu schaffen.»

Keine Eintracht rund um den See

Im Interview mit der «Thurgauer Zeitung» kritisiert Hess auch die Verkehrserschliessung («katastrophal») und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Die Politiker brächten «nichts Zählbares» über den See hinaus zustande. «Wir schaffen es nicht einmal, eine Regelung betreffend Mehrwertsteuer-freiem Einkaufstourismus Schweiz-Deutschland zu finden», sagt der Unternehmer. Zudem versuche er mit der Schweizerischen Bodensee-Schifffahrt AG seit zehn Jahren mit den deutschen und österreichischen Kollegen eine auf dem ganzen See gültige Tageskarte einzuführen. Bislang ohne Erfolg. «Am Bodensee herrscht keine alemannische Eintracht, sondern ein gewisses Misstrauen.» IHK-Präsident Christian Neuweiler kann der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit allerdings wenig Negatives abgewinnen. Er ist der Ansicht, sie funktioniere gut. Beim Verkehr hingegen sehe es anders aus. Neuweiler würde sich von der ländlichen Bevölkerung mehr Unterstützung für die beiden Strassenprojekte BTS und OLS wünschen. «Leider ist das ein Trauerspiel: Mit einer Bundesrätin, die keine neuen Strassen bauen will, und einer Ostschweiz, die nicht zusammensteht», kritisiert er. Es gehe dabei auch nicht nur um die bessere Erschliessung des Oberthurgaus, sondern auch um die Sicherheit. «Gerade vor kurzer Zeit gab es wieder einen tödlichen Unfall in Kreuzlingen, weil sich der ganze Schwerverkehr mitten durch die Stadt quälen muss.»

 

Viele positive Reaktionen

Gewerbepräsident Hansjörg Brunner glaubt nicht, dass sich die Thurgauer selbst im Weg stehen. «Wir sind selbstbewusst, eigenständig und wissen genau, was wir wollen. Dafür setzen wir uns auch ein. Aber wir sind keine Lautsprecher, weil wir schon immer gewusst haben, dass sich Ziele und Visionen mit Respekt, überzeugenden Argumenten und Zielstrebigkeit am ehesten und besten realisieren lassen.» Hermann Hess hat mit seiner Kritik eine Diskussion ausgelöst. Trotzdem: «Mir gegenüber gab es wenig Reaktionen, die meine Sichtweise grundsätzlich ablehnen», sagt der Unternehmer. «Ich bekam aber eine ganze Reihe verständnisvoller und unterstützender Meldungen.» Der 69-Jährige fordert die Region auf, sich neu zu definieren. «Es braucht eine Weichenstellung, um ein neues Selbstbild zu schaffen», ist Hess überzeugt. «Das Selbstbild eines Kantons bestimmt seine Wahrnehmung von aussen, das heisst bei den Nachbarkantonen, in Bern und im grenznahen Deutschland.» Der Thurgau sei ein erfolgreicher Gewerbe-, Industrie- und zunehmend auch Dienstleistungsstandort, in welchem es auch Landwirtschaft gibt. «Es gibt hier sehr viele innovative und tüchtige Menschen und Firmen, die schweizweit, europaweit und weltweit tätig sind. Das müssen und dürfen wir noch stärker gegen aussen zeigen.»

 

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