Die heilige Bürokratie verbrennt Milliarden

Die heilige Bürokratie verbrennt Milliarden
Christoph A. Müller
Lesezeit: 8 Minuten

Das Selbstbild der Schweiz als liberaler Wirtschaftsstandort ist trügerisch: Der perfektionistische Regulierungseifer bremst die Wettbewerbsfähigkeit und ist insbesondere für KMU eine erhebliche Belastung.

Fragt man Unternehmer in der Schweiz, dann bestätigen sie unisono, dass das Korsett an Regulierungen, Gesetzen, Erlassen und sonstigen Vorschriften immer enger geschnürt wird. Raubt die Gesetzesmaschinerie der Wirtschaft tatsächlich die Luft zum Atmen, oder jammern die Wirtschaftsführer einfach auf hohem Niveau? Es gibt Indikatoren, die nahelegen, dass die Schweiz sich tatsächlich selbst Knüppel zwischen die Beine wirft. Die Weltbank bewertet mit dem Doing-Business-Index die Geschäftsfreundlichkeit und Unternehmensregulierungen in Volkswirtschaften und misst dafür etwa die Kosten und den Zeitaufwand für Unternehmensgründungen, Baugenehmigungen, Import und Export und etlicher weiterer Kriterien. Wie jedes Ranking ist auch diese Hitparade mit Vorsicht zu geniessen, mehrfach wurde auch Kritik laut, dass ungebührlich Einfluss auf die Studie genommen wurde und namentlich die Position von China mehr PR als Wissenschaft entspringt. Ganz aus der Luft gegriffen ist das von Neuseeland angeführte Ranking trotzdem nicht, wenn man sieht, dass Länder wie Dänemark, Südkorea, die USA, das Vereinigte Königreich, Norwegen und Schweden in der Spitzengruppe platziert sind, während sich die Schweiz auf Platz 36 einreiht – auch Deutschland und Österreich stehen der Eidgenossenschaft vor der Sonne. Dabei hat die Schweiz im Jahr 2007 immerhin noch Platz 15 belegt. Neu ist die Erkenntnis, dass sich insbesondere das Bundesparlament in erster Linie als gesetzgebende Versammlung gefällt, nicht. Dennoch: Immer wieder gab es Anläufe, die Regulierungsflut einzudämmen, nicht zuletzt von Ostschweizer Parlamentariern. Schon der frühere Thurgauer Ständerat Philipp Stähelin (CVP) lancierte systematisch dementsprechende Vorstösse (siehe separaten Artikel in diesem Schwerpunkt).

  

Belastung für KMU-Inhaber

Unter der Dichte an Vorschriften leiden insbesondere die K unter den KMU, wie Professor Dr. Christoph A. Müller, KMU-Spezialist an der HBM Unternehmerschule der Executive School of Management, Technology and Law der Universität St.Gallen, bestätigt: «Zusätzliche Regulierungen belasten vor allem die jeweiligen Inhaber und Geschäftsführer, weil sie letztlich verantwortlich sind, aber auch, weil sie nicht wie grössere Unternehmen über einen Stab an Mitarbeitern verfügen, die sich dieser Thematik widmen können.» Auch aufgrund der Komplexität der Vorschriften müsse sich jemand der Regulierungen annehmen, der den Gesamtüberblick über das Unternehmen habe. «KMU-Inhaber sollten sich ja eigentlich darum kümmern, ihre Produkte und Dienstleistungen weiterzuentwickeln, die Mitarbeiter zu führen, bei den Kunden draussen zu sein – und nicht alles aufzuarbeiten, was gerade an Vorschriften zu beachten ist», hält Müller fest. Oft müssten KMU Regulierungen beachten, die für ganz andere Adressaten – internationale Grossunternehmen oder spezifische Branchen – erfunden wurden. Aufgrund des Fixkostencharakters treffen Vorschriften kleine Unternehmen auch proportional stärker. Wie hoch die durch Regulierungen verursachten Kosten sind, war lange nicht klar. 2003 hat der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) die Kosten auf 7 Milliarden Franken jährlich beziffert, was damals 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) entsprach. 2010 untersuchte die KPMG mit Unterstützung von Christoph Müller für den Gewerbeverband die drei Themenfelder Arbeitsrecht/Arbeitssicherheit, Sozialversicherungen und Lebensmittelhygiene. Dabei kamen die Wirtschaftsprüfer auf eine Summe von knapp 4,8 Milliarden Franken, von denen sie eine gute Milliarde als «Sowieso-Kosten» wieder abzogen, also Ausgaben, die ein Unternehmen etwa für die Rechnungslegung auch ohne Vorschriften hätte. Allein für diese drei Bereiche entstehen den Unternehmen also Kosten von gut 3,8 Milliarden Franken.

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«Ein unabhängiger Externer würde das sicherlich unvoreingenommener machen als das Departement.»

Sogar Kosten von 70 Milliarden?

Der Schweizerische Gewerbeverband schrieb 2010, dass die Kosten für administrative Pflichten zusammen mit Kosten für weitere gesetzliche Handlungspflichten sogar bis zu 10 Prozent des BIP ausmachen würden. Gemessen am BIP von 2019 in der Höhe von 727 Milliarden Franken müsste man also schliessen, dass die Schweizer Wirtschaft jährlich die unglaubliche Summe von 70 Milliarden Franken auf dem Altar der Bürokratie opfert. Also Jahr für Jahr so viel Geld, wie in der Pandemie in einem Riesen-Effort als Unterstützung für die Wirtschaft locker gemacht wurde. KMU müssen oft externe Dienstleister in Anspruch nehmen, um die Anforderungen der Regulierungen erfüllen zu können, dazu kommen auch erhebliche Investitionen, beispielsweise in einschlägige Software. Das stiess dem SGV sauer auf: «Es stellt sich mit aller Deutlichkeit die Frage, ob ein Rechtssystem akzeptabel und tragbar ist, das die KMU zwingt, externe Experten für die Abwicklung und Umsetzung der staatlichen Regulierungspflichten mit entsprechend massiven Kostenfolgen beizuziehen.» Kaum widersprechen kann man der Einschätzung des SGV, dass die massiven Belastungen von KMU «zu einer Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes» führen. 2013 schliesslich veranlasste der Bundesrat seinerseits eine Schätzung und kam allein für die Kosten der wichtigsten Regulierungen auf 10 Milliarden Franken pro Jahr. Darunter figurierten etwa Ausgaben für die Lebensmittelhygiene von 1,3 Milliarden, für Hochbau-Bewilligungen von 1,6 Milliarden (immerhin 6 Prozent des Bauvolumens), für das Umweltrecht mit von 1,8 Milliarden oder für die Arbeits- und Unfallsicherheit von 1,2 Milliarden Franken.

Folgen der Regulierung abschätzen

Auch wenn gewählte Volksvertreter sich in der Regel als Urheber von neuen Vorschriften profilierten, gab und gibt es immer wieder Politiker, die der Wirtschaft und insbesondere den KMU das Leben ein bisschen einfacher machen möchten. Beim Ausserrhoder Ständerat Andrea Caroni (FDP) geniesst das Thema hohe Priorität, 2016 lancierte die FDP eine von ihm inspirierte Motion, die eine Regulierungsfolgeabschätzung verlangte. Dieses Instrument wurde inzwischen eingeführt, allerdings nicht so, wie es die Motionäre eigentlich wollten, nämlich als unabhängige Stelle, die kontrolliert, welche Auswirkungen eine neue Vorschrift haben wird. Diese Aufgabe fällt heute just jenen Verwaltungsabteilungen zu, die auch die neue Vorschrift formulieren. «Methodisch hat sich vor zehn Jahren zwar einiges getan», erklärt Christoph Müller. Es

 

«Da ist eine Komplexität entstanden, bei der man sich an den Kopf fasst.»

Mehrwertsteuer befeuert Bürokratie

Inzwischen gibt es unter der Bundeshauskuppel regelmässig Anstrengungen, um die Bürokratie einzudämmen. Der St.Galler Nationalrat Lukas Reimann (SVP) etwa fordert in zwei Motionen von 2018 und 2020 hartnäckig eine «Regulierungsbremse». Caroni wiederum war in diesem Frühjahr am FDP-Vorstoss beteiligt, der einen Einheitssatz der Mehrwertsteuer fordert. Eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt auf, dass jährlich 500 Millionen Franken administrative Kosten allein durch die Mehrwertsteuer ausgelöst werden. Die Einführung eines Einheitssatzes und die Aufhebung der Ausnahmen würde diesen bürokratischen Aufwand um immerhin 22 Prozent senken. Der Bundesrat bestätigte in der Antwort auf den Vorstoss, dass eine Vereinfachung der Mehrwertsteuer sinnvoll sei und positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum habe – dennoch lehnt die Landesregierung das Begehren ab. Weiterhin gibt es also unterschiedliche Mehrwertsteuersätze für unterschiedliche Situationen. So auch an der HSG. «Man muss den dreissigseitigen Mehrwertsteuerkatalog dreimal durchlesen, damit man versteht, was da gemeint ist» sagt Wirtschaftsprofessor Müller, «und dann muss man nochmals rückfragen bei der Finanzverwaltung, ob man es tatsächlich auch richtig macht. Da ist eine Komplexität entstanden, bei der man sich an den Kopf fasst.» Auch im grenzüberschreitenden Güterverkehr ist die Mehrwertsteuer ein Ärgernis, gerade für zukunftsträchtige Branchen. «Wer digitale Produkte in die EU verkauft, muss sich vor Ort anmelden und Mehrwertsteuer bezahlen; ein bürokratischer Irrsinn!», schimpft der Winterthurer FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt auf der Plattform LinkedIn. Auf jeden Euro Umsatz, der mit Kunden aus der EU gemacht werde, müsse Mehrwertsteuer bezahlt werden. Gerade für die Creator Economy, etwa Journalisten, die kostenpflichtige Newsletter verfassen, oder Influencer, welche auf den grossen EU-Markt angewiesen seien, bedeute dies einen enormen Aufwand. Der neue FDP-Vizepräsident will deshalb mit einem Vorstoss erreichen, dass die Eidgenössische Steuerverwaltung den Anschluss an den «One-Stop-Shop» der EU prüft. «Ideal wäre es, wenn man im Rahmen der Mehrwertsteuer-Abrechnung die Umsätze für den EU-Raum angeben könnte und die Eidgenössische Steuerverwaltung für die Verteilung in die EU-Länder sorgt.»

 

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Industriezölle fallen weg

Während die kleine Creator Economy noch von Vereinfachungen träumt, darf sich die Schweizer Industrie gerade über eine Entlastung freuen: Nach dem Ständerat hat anfangs Oktober auch der Nationalrat der Abschaffung der Industriezölle in der Schweiz zugestimmt. «Mit dem Wegfall der Zölle sinken die direkten Kosten und der administrative Aufwand in der Beschaffung einer breiten Palette von Produkten. Dies entlastet Grossunternehmen und KMU gleichermassen und steigert deren Wettbewerbsfähigkeit», freut sich der Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (Swissmem) in einer Reaktion. Drei Viertel der Zölle von rund 500 Millionen Franken wären im Prinzip im Rahmen von Freihandelsabkommen ohnehin bereits abgeschafft gewesen. Die Zölle würden bisher von den Firmen trotzdem bezahlt, um noch höheren administrativen Aufwand zu vermeiden. Die Industriezölle haben Rohstoffe und Halbfabrikate bei der Einfuhr verteuert, nun kann die Schweizer Industrie von günstigeren Vorleistungen profitieren und Produktionskosten senken. Der Verband Scienceindustries, der die Chemische Industrie vertritt, rechnet mit einer Entastung inländischer Konsumenten von 350 Millionen Franken und einem volkswirtschaftlichen Gewinn von 860 Millionen Franken.

 

Mehr Bürokratie ohne Bilaterale

Die Abschaffung der Industriezölle ist aber nur ein kleiner Lichtblick für grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten. Durch das Scheitern des Institutionellen Abkommens der Schweiz mit der EU (Rahmenabkommen) wird die Erneuerung der bewährten Bilateralen Verträge infrage gestellt. Was dies bedeuten kann, zeigt Christoph Müller anhand der Medizinalprodukte-Branche – dieses Abkommen ist ausgelaufen, und die EU zeigt sich an einer Erneuerung nicht interessiert. «Bisher gab es eine EU-Richtlinie, die in nationales Recht übernommen wurde», erklärt Müller: Wenn ein Produkt in der EU zugelassen wurde, dann galt dies ohne Weiteres für die EU, den EWR, die Türkei und eben auch durch die Bilateralen Verträge für die Schweiz. Mit einem bürokratischen Verfahren wurde gleich ein grosser Wirtschaftsraum abgedeckt. Mit dem neuen, strengeren EU-Gesetz MDR (Medical Device Regulation) wird auch eine europäische Datenbank Eudamed geschafften, in der werden die Hauptakteure, die in diesem Bereich tätig sind, mit ihren Produkten registriert. Die Schweizer Medizinalprodukte-Branche hat diesen Zugang aber nicht mehr. Schweizer Hersteller, die weiterhin Medizinprodukte in die EU exportieren wollen, müssen nun einen EU-Repräsentanten aufbauen. Swissmedic wiederum baut gerade eine eigene Datenbank für die Schweiz auf – «die muss aber kompatibel sein mit der EU-Datenbank, es könnte ja sein, dass man sich in Zukunft doch noch wieder einigt», sagt Müller. Bis es so weit ist, brauchen alle ausländischen Hersteller, aus der EU und aus der ganzen Welt, einen eigenen autorisierten Schweizer Bevollmächtigten, damit ihre Schweizer Importeure ihre Medizinprodukte dem Schweizer Gesundheitswesen zur Verfügung stellen können. Eigene Repräsentanten in der Schweiz aufzubauen ist nicht günstig: «Für viele Hersteller lohnt sich das gar nicht, der Schweizer Markt ist vergleichsweise klein, und wie sich die Rahmenbedingungen entwickeln, ist auch unklar.» Diese Situation hat zur Folge, dass KMU, die in der Schweiz in einer Nische tätig sind, gar nicht mehr alle Artikel importieren können, die sie möchten. Viele ausländischen Hersteller sagen sich, dass es sich nicht lohnt, nur für den Schweizer Markt doppelte Strukturen aufzubauen. In der Schweiz werden täglich eine Million Medizinprodukte vom Herzschrittmacher bis zur Schiene und zum Pflaster, aber auch medizinische Gerätschaften verkauft, darunter viele kleine Standard-Produkte. Für alle Importeure in diesem Bereich ist ein riesiges, neues Bürokratiemonster entstanden.

 

 

«In der Schweiz gibt es nur eine Zulassungsstelle, aber diese ist für die EU nicht akkreditiert.»

Die MDR hat auch die Anforderungen an die bezeichneten Stellen, die risikoreichere Medizinprodukte prüfen, verschärft, sodass in Europa und der Schweiz viel weniger Prüfstellen vorhanden sind, um neue oder wesentlich verbesserte Medizinprodukte zu zertifizieren und abgelaufene Zertifikate zu erneuern. Hier entsteht ein weiteres Problem: «In der Schweiz gibt es eine Zulassungsstelle, aber diese ist für die EU nicht akkreditiert. Schweizer Hersteller kämpfen mit allen anderen Herstellern um Prüfkapazitäten für Medizinprodukte bei den derzeit 23 zugelassenen benannten Stellen in der EU», schildert Christoph Müller die Situation. «Da gibt es jetzt ewige Wartezeiten und somit auch einen Innovationsstau.» Es werden künftig weniger Medizinprodukte exportiert und weniger importiert, und diese werden zudem wohl auch noch teurer, sowohl in der EU und erst recht in der Schweiz.

«Hunderte Millionen» Mehrkosten

Anlässlich eines Treffens von Bundespräsident Guy Parmelin mit dem Baden-Württembergischen Ministerpräsident Winfried Kretschmann Anfang Oktober in Stuttgart bezifferte Hagen Pfunder, Vorstand der deutschen Roche-Tochter Roche Pharma AG, die zusätzlichen Kosten für Bürokratie in der Medizinalbranche auf «Hunderte Millionen Franken». Gemäss der Stuttgarter Zeitung bezeichnete Kretschmann das Scheitern des Rahmenabkommens als «dramatisch». Denn die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem süddeutschen Bundesland sind für beide Seiten essentiell: Ein Drittel aller Schweizer Exporte geht nach Baden-Württemberg, ein Viertel aller Schweizer Importe kommt von dort.

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