«Viele Unternehmen werden abwarten und die Lage beobachten»
Text: Philipp Landmark
Jan-Egbert Sturm, Sie arbeiten als Wissenschaftler in einer postfaktischen Zeit. Das muss sich abenteuerlich anfühlen ...
Das KOF-Institut liefert auch weiterhin evidenzbasierte Erkenntnisse, die fundierte Entscheidungen ermöglichen. Durch den von Ihnen beobachteten Trend sind diese meiner Meinung nach noch wertvoller als zuvor.
Manche Konjunkturprognosen für 2026 klingen pessimistisch – weil das Wirtschaftswachstum sinkt. Das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz dürfte nach aktueller Erkenntnis um 1,2 Prozent wachsen. Eigentlich ist das angesichts der Wirrungen auf dieser Welt doch eine gute Nachricht?
Das prognostizierte Wachstum von 1,2 Prozent liegt deutlich unter dem wirtschaftlichen Potenzial der Schweiz. Wir gehen nächstes Jahr von einer Unterauslastung aus, zudem dürfte die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen.
Sie gehen in Ihrer Prognose von einem kräftigeren Wachstum in den beiden ersten Quartalen 2026 aus, gefolgt von zwei schwächeren Quartalen. Worin gründet dieser deutliche Unterschied?
Der Unterschied lässt sich vor allem durch den Einfluss internationaler Sportereignisse erklären: So finden im Jahr 2026 sowohl die Olympischen Winterspiele in Italien als auch die Fussball-Weltmeisterschaft in Nordamerika statt. Diese Grossereignisse beleben das erste Halbjahr, fallen im zweiten jedoch weg. Bereinigt man diesen Sondereffekt, ergibt sich für das Gesamtjahr eine Wachstumsrate von lediglich 0,9 Prozent. Das Bild für das zweite Halbjahr wird dabei gleichzeitig deutlich positiver. Dann wird die Schweiz vermehrt von einer anziehenden Konjunktur in Europa profitieren können.
«Die strukturelle Krise in der deutschen Automobilindustrie ist noch lange nicht überwunden.»
Die zusätzlichen US-Strafzölle von 39 Prozent dürften nach grossen Anstrengungen der Schweiz auf pauschal 15 Prozent zurückgenommen werden. Wie sehr hellt sich das Konjunkturbild dadurch auf?
Das würde insbesondere der Industrie helfen. Sie könnte sich damit schneller aus der Rezession der letzten Jahre herausbewegen. Das BIP könnte dadurch um 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte höher ausfallen. Auch wenn dies eine Verbesserung darstellt, läge die Entwicklung immer noch unter dem Potenzial.
2027 gehen Sie ebenfalls von einem BIP-Wachstum von 1,2 Prozent aus. Wir erleben also keinen neuerlichen Boom, aber auch keinen Einbruch der Wirtschaft?
Auch hier spielt der Effekt der internationalen Sportereignisse eine grosse Rolle. Da diese 2027 nicht stattfinden, ist die Wachstumsrate statistisch leicht gedrückt. Bereinigt um diesen Effekt liegt das tatsächliche Wachstum bei rund 1,6 Prozent und damit deutlich höher als im Vorjahr. Es entspricht eher dem, was langfristig für die Schweiz normal ist.
Ist die Schweiz mit diesem Trend eine Ausnahme in Europa?
Nein, wir gehen davon aus, dass Europa bis 2027 die Effekte der jüngsten Zollerhöhungen weitgehend verdaut haben wird. Zudem dürfte die expansivere Fiskalpolitik, insbesondere in Deutschland, die Konjunktur zusätzlich stützen.
Dem Schweizer Aussenhandel prophezeien Sie ein nur noch kleines Wachstum – auch das könnte man so verstehen, dass die Exportindustrie allen Widrigkeiten zum Trotz gut aufgestellt ist.
Die Exportwirtschaft ist grundsätzlich solide aufgestellt und hat mehrfach bewiesen, dass sie sich flexibel an neue Gegebenheiten anpassen kann. Ein wichtiger Erfolgsfaktor war in den letzten Jahren die Pharmaindustrie. Sie könnte jedoch künftig stärker unter Druck geraten, insbesondere wenn in den USA neue Handelshemmnisse oder Preisbeschränkungen in diesem Bereich eingeführt werden.
Das könnte die Schweizer Wirtschaft erheblich treffen, weil dieser Sektor eine hohe Wertschöpfung aufweist. Würde das auch andere Branchen bremsen?
Sollte der Pharmasektor stark betroffen sein, hätte das mit Sicherheit auch indirekte Auswirkungen auf andere Branchen. Dies wäre regional sicherlich von grosser Bedeutung.
In der Ostschweiz gibt es einige exportorientierte MEM-Unternehmen, die schon unter ihrer Ausrichtung als Autozulieferer leiden. Wie sieht es 2026 für diese Branche aus?
Für viele dieser Unternehmen bleibt die Lage schwierig. Die strukturelle Krise in der deutschen Automobilindustrie ist noch lange nicht überwunden, und die US-Zölle belasten die Unternehmen zusätzlich.
«Die wirtschaftliche Entwicklung wird 2026 unter dem langfristigen Potenzial liegen.»
Ein Begriff, der in Ihren Prognosen inzwischen häufiger auftaucht, ist «Unsicherheit». Dafür steht exemplarisch US-Präsident Donald Trump mit seinen sprunghaften Entscheidungen.
Zunehmende Unsicherheit wirkt sich grundsätzlich hemmend auf Investitionen aus. Viele Unternehmen warten ab, bis sich die politische und wirtschaftliche Lage stabilisiert hat, bevor sie neue Projekte initiieren.
Dominiert Donald Trump die reale Wirtschaft so, wie er die News dominiert, oder gibt es weitere wichtige Einflussfaktoren?
Es gibt immer mehrere Einflussfaktoren. Neben der US-Politik spielt insbesondere China eine zentrale Rolle, beispielsweise durch mögliche Gegenmassnahmen auf US-Zölle oder die Umleitung von Exportströmen auf alternative Märkte wie Europa. Auch die europäische Fiskalpolitik wird eine wichtige Rolle spielen. Einerseits gibt es Hoffnungen bezüglich des Pakets der deutschen Regierung, andererseits bestehen Risiken bezüglich einer möglichen Schuldenkrise, speziell in Frankreich.
Der seit bald vier Jahren andauernde Krieg Russlands in der Ukraine hat zuallererst den Energiesektor betroffen. Dann stiegen die Börsenkurse von Rüstungsunternehmen. Der Wegfall von Russland als Handelspartner war für die Schweiz aber gut verkraftbar, oder?
Ja, der Wegfall Russlands als Handelspartner war für die Schweiz insgesamt verkraftbar. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen blieben begrenzt.
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Aufgrund «anhaltender Unsicherheit» gehen Sie davon aus, dass 2026 viele Unternehmen kaum noch in ihre Anlagen investieren werden. Warten die einfach ab, oder erwägen sie, Kapazitäten in die USA zu verlegen?
Zunächst werden viele Unternehmen abwarten und die Lage beobachten. Anschliessend werden sie entscheiden, ob sie neue Märkte erschliessen oder Produktionskapazitäten – etwa in den USA – auf- bzw. ausbauen. Aufgrund seiner Grösse ist der US-Binnenmarkt attraktiv. Allerdings stellen die politischen Unsicherheiten und der dortige Fachkräftemangel Herausforderungen dar.
Verunsicherung bei Exportfirmen führt auch zu Verunsicherung bei Zulieferern und Dienstleistern in der Schweiz. Werden 2026 alle unter Donald Trump leiden?
Insgesamt wird die wirtschaftliche Entwicklung im Jahr 2026 voraussichtlich unter dem langfristigen Potenzial liegen. Besonders betroffen ist das verarbeitende Gewerbe, aber auch Dienstleister leiden unter der Situation.
Das neue Vertragspaket Schweiz–EU dürfte zwar erst 2028 vors Volk kommen, bis dahin aber ein dominantes Thema bleiben. Kann sich das absehbare politische Gezerre negativ auf die Wirtschaft auswirken?
Ja, politische Unsicherheit kann sich auf Investitionsentscheidungen auswirken. Unternehmen könnten Investitionen hinauszögern, in der Hoffnung, so ein besseres Verständnis für die zukünftige Lage zu erlangen und dadurch bessere Entscheidungen zu treffen. Eine weitere Möglichkeit wäre, aus Vorsicht vermehrt Produktionskapazitäten innerhalb der EU aufzubauen, um mehr Planungssicherheit zu gewinnen.
«Das KOF-Institut liefert auch weiterhin evidenzbasierte Erkenntnisse.»
Für Ihre Prognosen stützen Sie sich unter anderem auf eine Vielzahl von Daten. Nun gab es wie alle fünf Jahre eine Benchmark-Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Wird da die Geschichte neu geschrieben?
Teilweise werden historische Daten und Zusammenhänge neu bewertet. Solche Benchmark-Revisionen sind unerlässlich, um neue Datenquellen, verbesserte Schätzmethoden und aktualisierte konzeptionelle Rahmenbedingungen zu integrieren. Nur so kann sichergestellt werden, dass diese Statistiken genau, in sich konsistent und international vergleichbar bleiben. Allerdings erscheinen dadurch einzelne Entwicklungen in einem anderen Licht. Grundsätzlich ändern sich die langfristigen Trends und Prognosen jedoch in der Regel wenig.
Aktualisierte Daten zeigen für das laufende Jahr eine Stagnation bei den Bauinvestitionen. In den Vorjahren ging die Bautätigkeit bei Industrie- und Gewerbebauten stark zurück, aber auch Wohnbauten wurden weniger erstellt, obwohl zumindest hier ein ausgewiesener Bedarf bestünde. Ist die leichte Erholung im Wohnbau eine Trendumkehr?
Ja, wenn auch nur zögerlich. Einige Indikatoren, wie beispielsweise die Baubewilligungen, weisen schon seit einiger Zeit auf eine leichte Zunahme der Investitionen hin.
Lebte die Baubranche vor allem vom Tiefbau und von Projekten der öffentlichen Hand?
Nicht nur grosse Tiefbauten, sondern auch Infrastrukturbauten für soziale und gesundheitliche Zwecke haben stützend gewirkt. Vieles kam von der öffentlichen Hand, doch inzwischen wird auch im Tiefbau einiges über private Finanzierung realisiert.
Gibt es regionale Unterschiede bei der Baukonjunktur?
In Städten zu bauen, wird immer schwieriger. In dichten Ballungszentren gibt es deutlich mehr Einsprachen, die die Planungs- und Baufortschritte momentan enorm verzögern und für grossen administrativen Rückstau sorgen. Das bedeutet, dass Wohnbauten – sowohl Neubauten als auch Umbauten – in dichten städtischen Regionen noch zaghafter voranschreiten als ausserhalb.
Jan-Egbert Sturm ist seit 2005 ordentlicher Professor für angewandte Wirtschaftsforschung am Departement Management, Technologie und Ökonomie der ETH Zürich und Direktor des KOF-Instituts (der früheren «Konjunkturforschungsstelle»). In der Ostschweiz stellt er seinen Konjunkturausblick an Anlässen wie «Zukunft Ostschweiz» in St.Gallen oder dem Thurgauer Prognoseforum in Kreuzlingen vor. Von 2003 bis 2005 war Sturm Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz und übernahm damit auch die Leitung des Thurgauer Wirtschaftsinstituts an der Universität Konstanz in Kreuzlingen (TWI).
Text: Philipp Landmark
Bild: Rebekka Grossglauser