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Kapriolen haben Hochkonjunktur

Kapriolen haben Hochkonjunktur
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Für die Kunst der Konjunkturprognose werden eine Fülle von Daten mit wissenschaftlicher Logik interpretiert. Die Kapriolen von US-Präsident Donald Trump lassen sich allerdings schwer in Formeln fassen.

So schnell kann es gehen: Waren der Fachkräftemangel und die ausufernde Bürokratie lange konstant die grössten Sorgen der Schweizer Wirtschaft, so ist es nun der Aussenhandel, wie eine repräsentative Umfrage von Raiffeisen bei Schweizer KMU zeigt. Insbesondere die Purzelbäume von US-Präsident Donald Trump haben die Wahrnehmung der Unternehmen ähnlich schlagartig verändert wie vor zehn Jahren der Frankenschock. Damals hatte die Nationalbank den Euro-Mindestkurs aufgegeben. Das würde der Exportwirtschaft das Genick brechen, hiess es allenthalben – eingetroffen ist das Gegenteil, wie die NZZ zehn Jahre später resümierte: «Nach dem Frankenschock kam es weder zu einer Rezession noch zu einer Entlassungswelle. In der Schweiz ist die Industrieproduktion seit 2011 um stolze 40 Prozent angestiegen. Dagegen war sie in Deutschland rückläufig – obwohl sich der Euro zum Franken um 30 Prozent verbilligt hat.»

Einmal mehr bewahrheitete sich das geflügelte Wort: «Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.» Doch ohne gesicherte Erwartungen fehlt Unternehmen die Grundlage für Entscheidungen: Braucht es in den nächsten Monaten zusätzliche Kapazitäten, oder wird es nur schon schwierig, die aktuellen Strukturen rentabel auszulasten?

In der postfaktischen Trump-Ära ist die Halbwertszeit von News ohnehin immer kürzer.

Zölle wirken sich negativ aus

Zweifellos war die Ankündigung des US-Präsidenten, viele der Schweizer Warenimporte mit einem Zusatzzoll von 39 Prozent zu belegen, ein veritabler Schock – insbesondere für die überdurchschnittlich exportorientierte Ostschweizer Wirtschaft. Die effektiven Zölle belaufen sich in allen Kategorien auf deutlich über 40 Prozent. Eine IHK-Unternehmensumfrage, an der über 200 Ostschweizer Betriebe mitwirkten, drückt dies in Zahlen aus: 85 Prozent der befragten Unternehmen zeigten sich eher bis stark überrascht ob der Höhe der US-Zusatzzölle. Dabei überwiegen nach Einschätzung der Unternehmen eindeutig die Abwärtsrisiken: Neun von zehn Befragten rechnen damit, dass sich die US-Zölle negativ auf das Schweizer Wirtschaftswachstum auswirken werden.

Gemäss der eingangs zitierten Raiffeisen-Umfrage wiederum haben rund zwei Drittel der Unternehmen aufgrund der US-Zölle ihre Exportstrategie angepasst. Sie handeln mit Kunden neue Verträge aus oder erschliessen als Alternative zum US-Geschäft neue Länder und Märkte. Mehr als zehn Prozent der Export-KMU überlegen sich gar einen Rückzug aus dem Ausland. In einer ersten Befragung im Juli 2025 legten noch 17 Prozent der Firmen den Fokus auf andere Länder, im August waren es bereits 25 Prozent. Weitere 22 Prozent sind auf der Suche nach neuen Absatzmärkten, elf Prozent haben im Ausland neue Werke oder Tochterfirmen eröffnet. Das Unternehmen Cicor aus Bronschhofen steht als Beispiel für eine offensive Strategie: Der Elektronikhersteller hat vom Westschweizer Elektronikanbieter Valtronic zwei Produktionsstandorte übernommen – einen in Marokko und einen in Cleveland, Ohio. Damit erschliesst sich Cicor einen ersten Standort in den USA.

Nachdem nun das «Team Switzerland» doch noch einen Deal ausgehandelt hat, dürften sich die Perspektiven für die Ostschweizer KMU wieder etwas aufhellen. Demnächst sollen Zölle von pauschal 15 Prozent für die meisten Güter gelten. Das ist immer noch mehr als die ursprünglichen Zölle im tiefen einstelligen Prozentbereich, aber gleich viel, wie auch die Partner und Konkurrenten aus der EU stemmen müssen.

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«Hohe Prognoseunsicherheit»

Um solche zukunftsrelevanten Entscheidungen treffen zu können, sind Unternehmer auf verlässliche Prognosen angewiesen. Seit bald 80 Jahren ist die Konjunkturforschungsstelle der ETH, heute das KOF-Institut, die wissenschaftlich fundierte Version des Blicks in die Kristallkugel. Den Direktor des KOF-Instituts, Professor Jan-Egbert Sturm, kennt man auch in der Ostschweiz gut: Seine Referate über die Konjunkturaussichten sind Höhepunkte am Prognoseforum des Thurgauer Wirtschaftsinstituts und am Event «Zukunft Ostschweiz», zu dem die IHK St.Gallen-Appenzell und die St.Galler Kantonalbank jeweils Mitte November einladen. Dieses Jahr steht der Anlass im Olma-Areal unter dem Titel «Zölle, Zweifel, Zuversicht», worin wohl auch ein bisschen die Aufforderung mitschwingt, sich von Bad News nicht unterkriegen zu lassen.

In der postfaktischen Trump-Ära ist die Halbwertszeit von News ohnehin immer kürzer; bis man die Konsequenzen des neuesten Ukas aus dem Weissen Haus verstanden hat, gibt es längst neue Kapriolen des Deal-Makers, die genau das Gegenteil bedeuten können. Kein Wunder tritt der Begriff «Unsicherheit» in den jüngsten Konjunkturprognosen gehäuft auf. «Prognoseunsicherheit bleibt hoch», schreibt das KOF ETH etwa im September dieses Jahres in Bezug auf die US-Handelspolitik. «Dies könnte dazu führen, dass die Unternehmen vermehrt die Produktion ins Ausland verlagern. Sollten künftig auch Pharmaprodukte Zöllen unterliegen, könnten die Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft erheblich sein.» Genauso gut könnte es aber auch «Aufwärtsrisiken» geben, wenn sich der Handelskonflikt entspannen und zu einer Reduktion der US-Zölle führen würde – was jetzt ja der Fall sein sollte. Die Aussagen der KOF-ETH-Forscher, die mit präzisen Daten des Staatssekretariats für Wirtschaft und aufgrund einer regelmässigen Befragung von Schweizer Unternehmen ihre sehr fundierten Konjunkturprognosen erstellen, klingen heute zwangsläufig wie Bauernregeln: «Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter – oder es bleibt, wie es ist.» Da nützt es wenig, dass der Güggel-in-Chief eigentlich dauernd kräht.

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Es nützt wenig, dass der Güggel-in-Chief eigentlich dauernd kräht.

Über 1000 Stellen weg

Für den Newsletter «Business Class Ost» hat das KOF ETH die Umsatzanteile von Schweizer Unternehmen in verschiedenen globalen Märkten untersucht. Das hat bestätigt, was man schon ahnte: Die Ostschweiz ist überdurchschnittlich stark im US-Markt engagiert und durch einen hohen Stellenwert des verarbeitenden Gewerbes zusätzlich exponiert. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Handel mit der EU – auch hier ist die Ostschweiz überdurchschnittlich exponiert.

Die starke MEM-Branche, oft mit Schlüsselkunden im Automotive-Sektor, spürt nun die Krise ganz besonders, wie die Serie von Bad News der letzten Wochen zeigt. Der Industriekonzern SFS gab bekannt, sein Werk in Flawil SG zu schliessen. Ein Teil der 110 Stellen soll nach Heerbrugg SG verlagert werden. Der Autozulieferer Mubea aus Arbon hat angekündigt, weitere 100 Arbeitsplätze abzubauen. Bereits im vergangenen Frühling fielen dort 130 Jobs weg. Auch der weltweite Abbau von 13'000 Stellen bei ThyssenKrupp trifft die Region: Im liechtensteinischen Eschen und in Oberegg in Appenzell Innerrhoden werden 570 Stellen gestrichen. Die Brusa Hypower AG, ein Zulieferer für Elektrofahrzeuge, baut in Buchs und Sennwald 70 Stellen ab – als Grund werden explizit Donald Trumps Strafzölle genannt. Weitere Stellen gehen bei der Druckguss-Systeme St.Gallen verloren: Die DGS verlagert die Produktion von Aluminiumbauteilen und damit 80 von 310 Arbeitsplätzen aus Kostengründen nach Tschechien. Nur schon diese bekannteren Fälle haben die Ostschweiz über 1000 Arbeitsplätze gekostet. Darum erstaunt, dass das KOF ETH Anfang November nun meldet, dass nach einer längeren Phase mit rückläufigen Werten der Beschäftigungsindikator erstmals seit drei Jahren wieder auf eine leichte Aufhellung der Beschäftigungsaussichten hindeute. Der Wert liege im vierten Quartal 2025 bei 0,7 Punkten, im dritten Quartal lag er noch bei −0,6 (nach der Benchmark-Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung; vorher wurde ein Wert von +0,3 angegeben). Trotz des Zollschocks – und entgegen der Wahrnehmung angesichts lauter Nachrichten von Stellenabbau – ist offenbar ein Anstieg um 1,3 Punkte gelungen. Zu verdanken ist diese noch verhaltene Erholung am Arbeitsmarkt gemäss KOF ETH insbesondere dem Baugewerbe und den Dienstleistungsbranchen.

Noch im Frühherbst klang das KOF-Institut mit Blick vor allem auf vom Zollschock betroffene Industrien pessimistischer: Der Arbeitsmarkt kühle sich merklich ab, «die Arbeitslosigkeit steigt und bleibt auch mittelfristig erhöht». Nun gibt das KOF nicht gerade Entwarnung, klingt aber doch schon wesentlich freundlicher.

Wenn die IHK St.Gallen-Appenzell den Begriff «Zuversicht» in den Titel von «Zukunft Ostschweiz» setzt, hat dies also durchaus seine Berechtigung. Die Schweiz hat gelernt, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Nicht ganz zufällig hat die Weltorganisation für Geistiges Eigentum im Global Innovation Index 2025 die Schweiz zum wiederholten Mal als Land mit der weltweit innovativsten Wirtschaft ausgezeichnet.

Text: Philipp Landmark

Bild: Pixabay

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