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Ostschweizer Industrie im Stresstest

Ostschweizer Industrie im Stresstest
Markus Bänziger, Jérôme Müggler, Freddie Köchli und Florian Kobler
Lesezeit: 4 Minuten

Die Industrie der Ostschweiz steht unter massivem Druck. Nachdem mehrere Unternehmen Entlassungen angekündigt haben, wächst der politische Handlungsbedarf in den Kantonen. Während die Wirtschaftskammern vor staatlichen Eingriffen warnen und auf bewährte Instrumente wie die Kurzarbeit setzen, fordern die Gewerkschaften rasches Handeln und Unterstützung für Betriebe und Beschäftigte.

In den vergangenen Wochen häuften sich die Meldungen über Stellenabbau in der Ostschweizer Industrie. Der Autozulieferer DGS kündigte am Hauptsitz in St.Gallen den Abbau von 80 der 310 Stellen an. Die Produktion von Aluminium-Druckguss wird nach Tschechien verlagert – begründet mit der anhaltenden Krise in der deutschen Automobilindustrie. Der Rheintaler Technologiekonzern SFS schliesst wie geplant bis Ende 2027 das Werk in Flawil mit 110 Mitarbeitern. 75 Stellen gehen verloren.  Auch bei Leica Geosystems und Bernina steht ein Stellenabbau im Raum. Insgesamt sind laut den Gewerkschaftsbünden St.Gallen und Thurgau bereits über tausend Arbeitsplätze betroffen. Die Gewerkschaften verlangen, dass die Kantone handeln. Neben der vom Bund finanzierten Kurzarbeit fordern sie kantonale Programme zur Förderung von Innovation, Transformation und Weiterbildung. Auch die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren sollen frühzeitig mit genügend Ressourcen ausgestattet werden.

«DGS streicht 80 der 310 Stellen in St.Gallen – die Produktion wandert nach Tschechien.»

Kantone setzen auf Stabilität

Die Wirtschaftsämter der Ostschweizer Kantone beobachten die Entwicklung mit Sorge, sehen aber derzeit keinen unmittelbaren Handlungsbedarf. Im Thurgau haben bis Ende Oktober rund 200 Unternehmen Kurzarbeit vorangemeldet – rund 60 Prozent mehr als im Vorjahr. Nicht alle dieser Betriebe machen davon auch tatsächlich Gebrauch, doch die Zahlen zeigen, dass die konjunkturelle Lage angespannt ist. Gleichzeitig betonen die Behörden, dass die Betriebe bewusst zurückhaltend agieren, weil sie ihre Fachkräfte in einer künftigen Aufschwungphase wieder benötigen werden.

Auch im Kanton St.Gallen wird die Situation aufmerksam verfolgt. Die Zahl der Betriebsschliessungen und Verlagerungen hat zugenommen, doch längerfristig wird die Entwicklung als Teil eines wiederkehrenden Zyklus gesehen. Die Arbeitslosenquote liegt mit 2,3 Prozent weiterhin auf einem moderaten Niveau. Statt kurzfristiger Förderprogramme setzen die Kantone auf langfristige Standortförderung, stabile Rahmenbedingungen und die Stärkung der Innovationskraft.

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Industrie unter Druck

Markus Bänziger, Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell, spricht von einer angespannten Lage. «Mehrere Ostschweizer Industrieunternehmen haben Stellenabbaupläne bekannt gegeben. Die Auftragslage ist schwierig, die Auslastung liegt bei rund 80 Prozent», sagt er. Rund ein Drittel der Unternehmen rechne tendenziell mit einem Personalabbau, doch die Arbeitslosenquote liege noch im langjährigen Mittel. Für Bänziger ist klar, dass die bestehenden Instrumente genügen. «Die Kurzarbeit ist erprobt und bewährt. Ihre Verlängerung auf 24 Monate ist ein wichtiger Schritt.» Von zusätzlichen staatlichen Eingriffen hält er wenig: «Weitreichende Eingriffe verfälschen den Markt, schaffen Abhängigkeiten, schwächen die Innovationskraft und überfordern letztlich die Finanzkraft der Schweiz.» Entscheidend sei, die langfristigen Standortfaktoren zu stärken – Berufsbildung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung. «Die Politik sollte die langfristigen Rahmenbedingungen verbessern, statt die Handlungsfreiheit der Unternehmen einzuschränken.»

«Rund 200 Unternehmen haben im Thurgau Kurzarbeit vorangemeldet – 60 Prozent mehr als im Vorjahr.»

Strukturwandel als Realität

Ähnlich argumentiert Jérôme Müggler, Direktor der IHK Thurgau. Die Lage sei zwar nicht in allen Branchen gleich angespannt, aber besonders der Exportsektor spüre die weltwirtschaftlichen Einflüsse. «Die Industrie in unserer Region ist vielseitig aufgestellt, doch durch ihren hohen Exportanteil stärker betroffen als andere Regionen», erklärt er. Deutschland stagniere, die USA und China verlangsamten ihr Wachstum. «Unternehmen versuchen, ihre Mitarbeiter so lange wie möglich zu halten, da sie wertvolle Fähigkeiten mitbringen, die in besseren Zeiten schwer zu ersetzen sind.» Von kurzfristigen Förderprogrammen hält Müggler nichts. «Staatliche Unterstützung für einzelne Branchen oder Unternehmen verzerrt den Wettbewerb und verzögert den Strukturwandel.» Aufgabe der Politik sei es, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen – etwa durch weniger Bürokratie, wettbewerbsfähige Steuern und freien Zugang zu Märkten. «Die Kurzarbeit hat sich bewährt, aber wenn sich die Nachfrage nicht erholt, muss man den Strukturwandel annehmen, auch wenn das schmerzhaft ist.» Entscheidend werde sein, ob es den Unternehmen gelingt, Innovation und Investitionen trotz Unsicherheit aufrechtzuerhalten.

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Gewerkschaften fordern Eingreifen

Ganz anders sehen das die Gewerkschaften. Freddie Köchli, Leiter Sekretariatsregion Syna Ostschweiz, spricht von einer «dreifachen Krise aus Frankenstärke, schwacher Nachfrage und US-Zöllen». Betroffen seien vor allem Betriebe der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. «Syna befürchtet einen strukturellen Bruch mit langfristigen Folgen für Wirtschaft und Arbeitnehmer.» Die Gewerkschaft fordert von den Kantonen rasches Handeln. «Die Behörden sollen die verlängerte Kurzarbeit unbürokratisch umsetzen und Arbeitnehmer bei Weiterbildung unterstützen», sagt Köchli. Wichtig sei, dass Betroffene beraten und begleitet würden. «Es braucht Programme, die gemeinsam mit Fachhochschulen umgesetzt werden, damit Arbeitnehmer neue Abschlüsse erwerben können.» Auch industriepolitische Massnahmen hält Syna für notwendig. «Die Industrie hat eine Sonderstellung und ist von grosser volkswirtschaftlicher Bedeutung. Branchenspezifische Massnahmen sind deshalb gerechtfertigt.»

Appell an die Politik

Florian Kobler, Leiter Gesamtarbeitsverträge der Unia Ostschweiz-Graubünden, teilt diese Einschätzung. «Die Lage ist sehr ernst. In den letzten Wochen wurde der Abbau von über tausend Stellen angekündigt», sagt er. Aus seiner Sicht reagieren die Kantone zu passiv. «Sie beobachten die Entwicklung und hoffen, dass es dann schon gut kommt. Das ist ein Fehler.» Die Kantone müssten jetzt aktiv werden, Innovation und Transformation fördern und Weiterbildung gezielt unterstützen. Auch Kobler spricht sich für branchenspezifische Programme aus. «In einer Zeit, in der einzelne Branchen besonders unter Druck stehen, wäre ein gezieltes Eingreifen dringend notwendig.» Weiterbildung spiele dabei eine zentrale Rolle, um Arbeitnehmern neue Perspektiven zu eröffnen. «Es braucht das klare Bekenntnis von Wirtschaft und Politik, dass man alles unternimmt, um weiteren Stellenabbau zu vermeiden.»

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«Über tausend Arbeitsplätze in der Ostschweizer Industrie sind bereits betroffen.»

Zwischen Stabilität und Wandel

Ob sich die Industrie rasch erholt, bleibt offen. Die Arbeitgeber zeigen sich zuversichtlich, dass die Ostschweizer Wirtschaft dank Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit gestärkt aus der Krise hervorgehen kann. Entscheidend wird sein, ob Unternehmen bereit sind, trotz Unsicherheit in neue Technologien und Ausbildung zu investieren. Denn die Gewerkschaften befürchten, dass ohne entschlossene Massnahmen Arbeitsplätze verloren gehen, die nicht so schnell wiederkehren. Ob die Politik auf Stabilität setzt oder auf aktives Eingreifen, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.

Text: Patrick Stämpfli

Bild: zVg

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