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Warum Unternehmen St.Gallen den Rücken kehren

Warum Unternehmen St.Gallen den Rücken kehren
Remo Daguati
Lesezeit: 6 Minuten

St.Gallen gilt als traditionsreicher Wirtschaftsstandort mit einer starken Verankerung im Finanz- und Textilwesen, mit innovativen Industriebetrieben und einem pulsierenden Dienstleistungssektor. Doch seit den 1970er-Jahren ist auch eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten: Immer wieder haben Unternehmen ihre Hauptsitze oder zentrale Betriebseinheiten aus der Stadt verlagert – in die Region, in andere Kantone oder gleich ins Ausland. Wie aktuell der Versicherungskonzern Helvetia. Weshalb ist das so?

Mit der angekündigten Fusion der Helvetia-Versicherung mit der Baloise entsteht die zweitgrösste Versicherungsgruppe der Schweiz – mit Sitz in Basel. Was das für die über Jahrzehnte in St.Gallen verwurzelte Helvetia bedeutet, bleibt offen. Doch der Fall reiht sich ein in eine längere Liste stiller Abgänge.

So etwa bei der Migros: Im Jahr 1998 fusionierte die Migros Genossenschaft St.Gallen mit jener von Winterthur/Schaffhausen zur heutigen Migros Ostschweiz. Der neue Hauptsitz liegt nicht mehr in der Stadt, sondern in Gossau – ein paar Kilometer entfernt, aber doch ein Signal. Zentralisierung und Effizienzsteigerung lauteten die damaligen Argumente. Verwaltung und Logistik verlagerten sich, und mit ihnen Arbeitsplätze und Entscheidungsbefugnisse.

Ein anderes Kapitel schrieb die traditionsreiche Bischoff Textil AG. Das St.Galler Unternehmen, bekannt für hochwertige Stickereien, verlagerte ab 2018 wesentliche Teile seiner Produktion nach Thailand und Sri Lanka – eine Konsequenz des zunehmenden internationalen Preisdrucks. In St.Gallen blieben das Design und die Geschäftsführung, doch rund 50 Stellen wurden abgebaut.  Damit steht Bischoff exemplarisch für eine ganze Reihe von Textilbetrieben, die in der Ostschweiz einst ganze Quartiere prägten und heute nur noch als Marken oder Designstandorte präsent sind.

 

«St.Gallen sollte mehr private Initiative zulassen.»

Auch der industrielle Bereich blieb nicht verschont. Die Hardinge Kellenberger AG etwa, ein international tätiger Hersteller von Präzisionsschleifmaschinen, verlagerte ihre Produktion schrittweise von St.Gallen nach Goldach. 2023 wurde dort ein neues Werk mit 25’000 Quadratmetern Fläche eröffnet – hochmodern und zukunftsorientiert. Der Schritt bedeutete aber auch das Ende der Ära Kellenberger als Industriearbeitgeber in der Stadt. Besonders einschneidend waren in den letzten Jahren Entwicklungen im Bankensektor. Die älteste Bank der Schweiz, Wegelin & Co., mit Sitz am Bohl in der St.Galler Altstadt, musste sich 2013 nach einem US-Steuerstreit auflösen. Das Nicht-US-Geschäft ging in der neu gegründeten Notenstein Privatbank auf – ebenfalls mit Sitz in St.Gallen. Doch auch diese überdauerte nicht lange: 2018 wurde Notenstein von der Zürcher Bank Vontobel übernommen. Die Marke verschwand, und mit ihr die unternehmerische Eigenständigkeit in der Gallusstadt.

Was bleibt, ist die Feststellung, dass St.Gallen in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche zentrale Funktionen von einst bedeutenden Unternehmen eingebüsst hat – oft leise, fast unbemerkt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Fusionen, Globalisierung, Technologiewandel, Standortvorteile anderswo. Und doch wirft jeder dieser Fälle auch eine strategische Frage auf: Wie kann es der Stadt künftig gelingen, nicht nur neue Firmen anzuziehen, sondern auch bestehende zu halten? Einer, der Antworten auf diese Fragen kennt, ist der St.Galler Standortspezialist Remo Daguati, der mit seiner LOC AG Firmen und Kommunen bei den Themen Standortförderung, Arealentwicklung sowie Strategieberatung unterstützt.

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Remo Daguati, St.Gallen hat in den letzten Jahrzehnten mehrfach Firmen und Hauptsitze verloren. Wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand des Wirtschaftsstandorts – und wo liegen die grössten strukturellen Schwächen?
Mich überrascht die Entwicklung nicht. St.Gallen bewegt sich als Wirtschaftsstandort in seiner Dynamik seit Jahren seitwärts, mit schleichender Tendenz nach unten. Wissensbasierte Jobs der Privatwirtschaft wurden durch staatlich geprägte Stellen verdrängt. Wer hinsieht, konnte diese Entwicklungen schon vor Jahren erkennen. Wer es zu deutlich ansprach, galt als Nestbeschmutzer. 

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Voraussetzungen, damit Unternehmen sich in einer Stadt wie St.Gallen langfristig verwurzeln – und was fehlt aktuell konkret?
Die Reisezeiten von St.Gallen in andere Metropolitanräume dauern viel zu lange. Daher ist das Fachkräftepotenzial begrenzt, was das Halten und Gewinnen von Unternehmen erschwert. Zudem hat sich St.Gallen mit der Reduktion der technischen Lehrgänge an Universität und Fachhochschule vor der Jahrtausendwende einen Bärendienst erwiesen. Seither gibt es zu geringe technologische Impulse und damit Innovationen für den Werk- und Dienstleistungsstandort. Auch ist man träge geworden. Insbesondere der Kanton will die verlorenen Marktanteile nicht über ein aktiveres Standortmarketing zurückgewinnen. Wer neue Firmen anzieht, erhält weniger Transfermittel aus dem nationalen Finanzausgleich – so die Rechnung der Regierung. Das rächt sich immer mehr.

Welche Rolle spielen Arealentwicklungen – etwa in Lachen, Brühltor oder auf dem Güterbahnhofareal – in einer städtischen Wachstumsstrategie? Könnten solche Projekte einen Turnaround einleiten?
Arealentwicklungen für attraktive Wirtschaftsflächen wie auch das Wohnen sind das A und O der Standortförderung. Die Stadt St.Gallen verhält sich bei Arealentwicklungen ähnlich glücklos wie der FC St.Gallen bei Cupspielen, wenn es zum Penaltyschiessen kommt. Wenn ich die Investitionsvolumen zusammenrechne, die bei Entwicklungsprojekten für attraktive Wirtschafts-, Bildungs- und Wohnflächen im letzten Jahrzehnt verzögert oder versiebt wurden, dann komme ich auf Milliardenbeträge. In St.Fiden wie auch im Areal Bahnhof Nord direkt beim Hauptbahnhof hätte man modernste Business- und Technologieinkubatoren installieren können. Man hat zu viele Chancen vergeben.

 

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St.Gallen hat sich in der Vergangenheit stark auf seine Institutionen und Verwaltungen verlassen. Muss die Stadt wirtschaftlich mutiger, risikofreudiger oder gar unternehmerischer werden?
Wenn sich die Stadtsilhouette seit meiner Kindheit verändert hat, dann primär durch staatliche Bauten. Damit man mich nicht falsch versteht: Der Staat darf durchaus wachsen, solange die Wirtschaft ebenso gedeiht. Dieses Verhältnis stimmt in St.Gallen schon längst nicht mehr. Das Projekt der Neuen Bibliothek am Marktplatz ist für mich zudem exemplarisch: Anstelle der Neuausrichtung eines bestehenden Wohn- und Dienstleistungsgebäudes plant man einen staatlichen Koloss, der alles erdrückt. Letztendlich verdrängt man so wissensbasierte private Dienstleister aus der Stadt.

Welche Lehren lassen sich aus erfolgreichen Arealentwicklungen in vergleichbaren Städten ziehen – etwa in Winterthur, Aarau oder Zug?
Zug ist nicht nur steuerlich und bei Verwaltungsverfahren top, sondern bündelt Technologie- und Wissenszentren sowie Flächen für Headquarters mit extremen Verdichtungsprojekten rund um Bahnhöfe – so auch in Risch-Rotkreuz. Der Aargau setzt dafür Impulse in seinem Standortmarketing und prüfte einen Beitritt zur Greater Zurich Area, um bei den Ansiedlungen noch gezielter zu punkten. Winterthur schliesst sich bei Arealentwicklungen gezielt mit privaten Entwicklern zusammen, weil das Geld für die staatliche Grundstückspolitik fehlt. St.Gallen sollte mehr private Initiative zulassen – so geht viel Innovation verloren. 

Und wie wichtig sind urbane Faktoren wie Wohnraum, Kultur, Gastronomie oder Mobilität, wenn es darum geht, innovative Unternehmen und junge Talente an einen Standort zu binden?
Qualitative Faktoren sind bei Standortentscheidungen im letzten Drittel des Entscheidungsprozesses relevant und wichtig. Nun ist es aber so, dass zuerst die quantitativen Hygienefaktoren – vor allem die Steuern – geprüft werden, damit man überhaupt auf die Longlist eines Unternehmens kommt. Bei solch harten Faktoren ist St.Gallen oft nur Mittelmass. Danach geht es um die Makrostandortfaktoren wie Erreichbarkeit oder Innovationskraft – auch da hinkt man gegenüber anderen Standorten in den Rankings hinterher. Allein mit der Schönheit und kulturellen Vielfalt einer Stadt lässt sich der Rückstand in der Standortbewertung nicht mehr aufholen.

 

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«Mir kommt St.Gallen vor wie eine alte, in der Tendenz leicht schwerhörige, dafür arrogante Dame.»

Sie arbeiten regelmässig mit öffentlichen und privaten Investoren. Wie beurteilen Sie das Zusammenspiel zwischen Stadtverwaltung, Investoren und Immobilienentwicklern in St.Gallen?
Mir kommt St.Gallen vor wie eine alte, in der Tendenz leicht schwerhörige, dafür arrogante Dame. Obschon immer weniger Leute zum Tee vorbeischauen, will sie die verbleibenden Besucher ständig belehren. Etwas Demut würde den politischen Entscheidungsträgern bei Kanton wie Stadt deshalb guttun. St.Gallen darf sich bewusst werden, dass es eine Extrameile braucht, wenn man sich um Investoren und ihre Zukunftsprojekte bemüht. Man kann sich dabei an der Zentralschweiz orientieren, wo Staat wie Private die Entwicklung gemeinsam voranbringen. Das Dreieck Zug–Luzern–Schwyz weist eine erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung auf, die nicht aus reinem Zufall entstanden, sondern der Lohn für bewusste Standort- und Steuerstrategien ist.

Konkret: Wie kann St.Gallen sein Profil als Wirtschaftsstandort schärfen?
Die Positionierung des Standorts St.Gallen über die Themen wie Health oder Digital ist grundsätzlich richtig. Es fehlen aber für den Erfolg bestens erreichbare Flächen, der Ausgangslage angemessene Rahmenbedingungen und pfiffige Promotionsstrukturen, welche Unternehmen und Talente anziehen helfen. Zudem: Die alten Zöpfe der vergangenen Grösse gilt es konsequent abzuschneiden.

Was müsste Ihrer Meinung nach also innerhalb der nächsten fünf Jahre passieren, damit man 2030 rückblickend sagen kann: «St.Gallen hat die Kurve gekriegt»?
Ich bedaure: 2030 wurde längst verpasst. Da haben sich zu viele Türen verschlossen, die sich kaum mehr öffnen lassen. Wir müssten heute ehrlicherweise über 2045 oder später sprechen. Der Bildungs- und Forschungsstandort müsste zu seinen Technologiekompetenzen zurückfinden, die sich mit den bestehenden Stärken des Dienstleistungsstandorts paaren. Die Arealentwicklungen für Wirtschaftsflächen in Bahnhofnähe müssten ins Ziel finden. Die Erreichbarkeit müsste aggressiv erhöht werden. Der Wille in der Politik, nicht von Transferzahlungen der Erfolgreichen zu leben, sondern das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wäre eine Grundvoraussetzung für den Wandel. Dann kommt auch die Treffsicherheit zurück.

Text: Stephan Ziegler

Bild: Marlies Beeler-Thurnheer

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