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«Elektromobilität ist eine ganz andere Kultur»

«Elektromobilität ist eine ganz andere Kultur»
Andreas Herrmann
Lesezeit: 9 Minuten

Der Wandel zur Elektromobilität dauert wohl länger, doch Andreas Herrmann, Direktor des Instituts für Mobilität an der Universität St.Gallen, ist überzeugt: Der Trend ist unumkehrbar.

Andreas Herrmann, verschläft ein Teil der Automotive-Industrie den technologischen Wandel? Gerade in Deutschland hat die Industrie lange am alten Erfolgsmodell festgehalten, wohl auch durch widersprüchliche Signale des Staats.
Das alte Geschäftsmodell war eben sehr erfolgreich. Deutschland war Technologieführer, Reputationsführer, Markenführer. Die deutsche Industrie hat enorm viel Geld verdient mit dem klassischen Modell: Verbrennungsmotor und manuelles Fahren. 

Doch jetzt brechen die Märkte weg.
Der wichtigste Absatzmarkt für deutsche Autos war China. Den chinesischen Unternehmen wiederum war klar, dass sie auf lange Sicht kaum Chancen haben, beim Verbrennungsmotor mit den Europäern mitzuhalten. Darum haben sie die Regeln des Spiels verändert und konsequent auf Elektromobilität gesetzt. Das war wie bei Monopoly, wenn es heisst: «Alle zurück auf Los, wir starten neu!»

Die deutschen Hersteller – die wichtigsten Kunden der vielen Schweizer Zulieferer – haben nicht ernsthaft mitgespielt.
Die Deutschen merkten, dass sie bei Elektromobilität nur einen kleinen Antrieb im Fahrzeug verbauen können, mit noch 200 Teilen statt 2000 – damit verdienen sie kein Geld. Die Batterie als Zulieferer-Komponente kommt ohnehin aus Asien, also geht die Wertschöpfung stark zurück, das Geschäftsmodell kommt unter Druck. Daher kam diese grosse Zögerlichkeit, den Wandel mitzugestalten. Gleichzeitig hat China massiv staatliche Gelder in die Entwicklung der Elektromobilität investiert.

«Wir dürfen nicht vergessen, dass es weltweit viele Märkte gibt, die nicht reif sind für Elektromobilität.»

Haben die Europäer China auch unterschätzt?
Und wie! Um 2010 hörte man noch abschätzige Sprüche. Als hier das erste chinesische Auto auf den Markt kam, haben alle gelacht. Aber seither haben die Chinesen enorme Fortschritte gemacht.

Die Deutschen spöttelten seinerzeit auch über Tesla, «die können kein Spaltmass» war ein geflügeltes Wort.
Sie hatten übersehen, dass sich das Augenmerk der Kunden verlagert: auf Digitalisierung, auf Entertainment – und weg vom Spaltmass und traditioneller Ingenieurskunst.

Viele Schweizer Automobilzulieferer sind Zulieferer nach Deutschland. Gilt hier «mitgegangen, mitgefangen»?
Ja, das ist so. Gerade wenn man auf den Verbrennungsmotor ausgerichtet ist und etwa Komponenten baut für das Getriebe und den Motor, dann hängt man mit drin. Solche Betriebe können sich selten schnell auf Elektromobilität ausrichten, das ist eine komplett andere Technologie. Es gibt durchaus auch Ostschweizer Zulieferer, die Komponenten für Elektromobilität bauen, aber das braucht spezielle Fähigkeiten.

 

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Sind das auch andere Unternehmen, die neu im Bereich Automotive agieren?
Das sind oft andere Unternehmen. Denn Elektromobilität ist nicht nur ein anderes Produkt, das ist auch eine ganz andere Kultur, weil vieles softwaregetrieben ist. Eine Software-Bude tickt anders als eine Hardware-Schmiede. Dort arbeiten ganz andere Menschen, die ganze Organisation ist anders.

Der Autohersteller muss am Schluss diese Komponenten und diese Welten zusammenfügen. Selbst denken sie aber noch wie Hardware-Schmieden.
Total. Darum bringen sie eigene Digitalprojekte nicht zum Fliegen. Volkswagen wollte mit dem Tochterunternehmen Cariad eine umfassende Softwareplattform für den ganzen Konzern entwickeln, doch das Vorhaben scheiterte. Jetzt arbeitet VW mit Xpeng aus China und der Amazon-Tochter Rivian zusammen – der Konzern kauft die Software also wieder ein. Cariad macht nur noch kleine Komponenten.

Ist VW an einem Kulturproblem gescheitert?
In der Philosophie der chinesischen Hersteller oder auch von Tesla steuert eine Softwareplattform alle Funktionen im Auto. Bei VW gibt es eine Software für den Fensterheber, eine für die Motorensteuerung – eine kommt von Bosch, die andere von ZF. Ein VW Golf ist ein Sammelsurium von rund 150 Software-Modulen von verschiedensten Zulieferern.

 

Auf was oder auf wen sollte sich ein Autozulieferer in der Schweiz heute ausrichten? Kommen die Deutschen wieder, oder soll man auf Alternativen setzen?
Vor wenigen Jahren habe ich gedacht, dass der Wandel zur Elektromobilität viel schneller geht. Wir werden aber sicher einige Jahrzehnte sehen, in denen beide Technologien parallel verwendet werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass es weltweit viele Märkte gibt, die nicht reif sind für Elektromobilität. Sogar die EU wird das Verbrennerverbot hinauszögern. Es wird also auch noch Zulieferer für Verbrennungsfahrzeuge brauchen. Aber die Entscheidung für Elektromobilität ist im Grunde gefallen. Die Frage ist nur, wie lange sich der Übergang zieht. Der Markt wächst – selbst in Deutschland, auch die deutschen Hersteller bringen immer mehr E-Modelle raus. Dieser Trend zur Elektromobilität ist nicht umkehrbar.

Was bedeutet das nun für einen Ostschweizer Zulieferer?
Vorerst wird einfach das Spektrum der potenziellen Kunden grösser. Die Deutschen oder auch die Franzosen werden zwar an Bedeutung verlieren, aber nicht vom Markt verschwinden. Aber klar ist, dass die Chinesen kommen. Aus dieser Sicht kann es sinnvoll sein, mit chinesischen Firmen zusammenzuarbeiten.

Die Chinesen sind ein sicherer Wert?
Manche Unternehmen kämpfen mehr, manche weniger, einzelne Marken werden auch verschwinden – es gibt heute enorm viele Marken in China. Aber die Chinesen werden nicht mehr vom Markt zu eliminieren sein. Sie sind da.

 

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«Mobilität ist etwas Positives, Mobilität schafft Reichweite, Lebenschancen.»

US-Präsident Donald Trump kündigt in hoher Frequenz neue Zölle an, insbesondere für die Autoindustrie ganz direkt. Bremst das auch Innovationen?
Wenn es dumm läuft, kann das zu einer Weltwirtschaftskrise führen. Bisher wurde aber kaum etwas so hart umgesetzt, wie Trump es ankündigte. Er ist auch beeindruckend schnell im Zurückrudern. Mit den Zöllen schadet er am Ende der US-Wirtschaft – er schlägt seine eigenen Leute.

Ein Grund mehr, nach China zu blicken?
Früher war China die billige Werkbank, dann einfach ein grosser Markt – heute sind die Chinesen in vielen Bereichen Technologieführer. Es gibt Firmen, die sagen: Wir müssen in China präsent sein, um technologisch up to date zu sein.

Gut eingeführte Marken verlieren an Bedeutung?
In der Automobilproduktion gibt es einen klaren Trend: Immer mehr Software-Komponenten vernetzen die Fahrzeuge nach aussen, die Wertschöpfung der Hersteller verschiebt sich Richtung Batterie, Steuerung, Infotainment – und weg von der klassischen Mechanik. Wenn bald autonomes Fahren dazukommt, verstärkt sich dieser Trend noch mehr. Die Hardware spielt eine immer kleinere Rolle. Wenn in absehbarer Zeit ein Kunde in ein autonomes Fahrzeug einsteigt, das ihm wahrscheinlich nicht mehr selbst gehört, dann ist es ihm egal, ob da BMW draufsteht. Die Markengeltung dürfte sich dadurch verschieben.

Diese Entwicklung bringt auch neue Anforderungen für die Zulieferer in der Schweiz.
Ja, aber als Wirtschaftsstandort Schweiz bleibt uns bei den Löhnen, die wir zahlen, und bei den Kosten, die wir haben, ohnehin gar nichts anderes übrig, als Hightech zu machen.

Wie schnell kommt das autonome Fahren? Müssen dafür erst die konventionellen Fahrzeuge weichen?
Wir werden nicht von heute auf morgen eine perfekte Welt gestalten – es wird mehrere Jahrzehnte eine Übergangswelt sein. Der Mischverkehr von Autos, die von Menschenhand gesteuert werden, und Autos, die autonom fahren, wird gerne als Konfliktherd heraufbeschworen. Tatsächlich gibt es solchen Mischverkehr bereits: In San Francisco fahren die rund 300 Robotaxis von Waymo komplett autonom. Es ist eindrücklich zu sehen, wie gut das funktioniert. Die Region Oslo will bis 2027 rund 800 autonome Fahrzeuge auf die Strasse bringen – nicht für die City, sondern für eher schwach entwickelte, periphere Regionen, die heute keinen guten Anschluss ans städtische Netz haben. Das Fahrzeug kann man per App rufen, es gibt unterschiedliche Grössen, vom Pkw bis zum Bus für eine Schulklasse.

Das autonome Fahrzeug muss verlässlich fahren, es muss auf die Strecke trainiert werden, die Signale müssen lesbar sein.
Wenn man die ganze Infrastruktur intelligent machen würde, wäre das aufwendig, und man könnte das nicht skalieren. Alles, was man im Fahrzeug machen kann, kann man skalieren: Geht es in einem Fahrzeug, geht es auch in hundert. Deshalb sind sich alle einig: Die Intelligenz muss ins Fahrzeug. Ich habe in Oslo Testfahrten mit diesen Fahrzeugen miterlebt – das funktioniert tadellos.

 

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Solche Erkenntnisse nehmen Sie zurück ans Institut für Mobilität an der HSG, das es nun seit fünf Jahren gibt. Für welche Mobilität steht dieses Institut?
Bevor wir das Institut für Mobilität gegründet haben, hatten wir sehr viel mit der Automobilindustrie zusammengearbeitet. Irgendwann hatten wir das Gefühl, dass diese Industrie sich jetzt einfach bewegen muss. Wir haben eine ineffiziente Mobilität, eine Mobilität, die nicht nachhaltig und auch nicht inklusiv ist. Also sagten wir uns: Wir brauchen einen Wandel. Wir arbeiten nicht mehr direkt mit der Automobilindustrie, sondern wir versuchen, der Industrie Impulse zu geben.

Dann hat in der HSG auch ein Wandel stattgefunden?
Früher hatten wir – Torsten Tomczak, Wolfgang Jenewein und ich – vor allem im Bereich Marketing viel mit grossen Automobilkonzernen gearbeitet. Heute forschen wir an einer nachhaltigen Mobilität. Wir müssen die Emissionen im Transportsektor reduzieren. Dieser Sektor steigt im Vergleich zu anderen immer noch massiv an. Wir brauchen Effizienz im Sinne von Flächeneffizienz, aber auch Gewichtseffizienz. Heute fahren wir mit einem zwei Tonnen schweren Fahrzeug, um 1,3 Personen – also etwa 120 Kilogramm Mensch – zu transportieren. Das Auto braucht viel Platz, viele Ressourcen.

Haben wir zu viel Mobilität?
Nein, und ich möchte auch nicht falsch verstanden werden: Wir sind nicht gegen Mobilität. Mobilität ist etwas Positives, Mobilität schafft Reichweite, Lebenschancen. Gerade wenn man die Schweiz anschaut: Viel von unserem Wohlstand hat zu tun mit einer Super-Mobilität. Man kann in St.Gallen leben, sich hier vielleicht sogar ein Haus leisten, und in Zürich arbeiten. Das geht – hin und her ist jeweils eine Stunde. Das ist Teil unseres Reichtums. Gleichzeitig sind wir kein Automobil-Institut – wir forschen ganzheitlich an Mobilität. Das Auto ist nur ein Teil der Lösung.

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«Viel von unserem Wohlstand hat zu tun mit einer Super-Mobilität.»

Das Ziel ist also, Mobilität effizient zu machen – und nicht etwa, Mobilität abzubauen?
Da wäre ich dagegen. Es kann nicht darum gehen, die Mobilität abzuschaffen. Aber wir brauchen keine Flüge für 25 Franken für den samstäglichen Shopping-Trip nach Mailand. Aus Kundensicht ist das attraktiv, aber es ist ein falsches Signal. Es suggeriert, dass Mobilität nichts kostet – doch die CO₂-Emissionen sind gewaltig. Solche Flüge muss man höher bepreisen. Aber im Grundsatz dürfen wir Mobilität nicht einschränken. Wir haben eine grosse Chance, um die Mobilität zu verbessern; wir sind dermassen ineffizient, dass wir ein gewaltiges Potenzial heben können. 

Soll unser Verhalten übers Portemonnaie gesteuert werden?
Mobilität darf auch nicht zu viel kosten. Wenn es zu teuer wird, um mit der Bahn nach Zürich zu fahren, dann wäre die Zahl der Arbeitsplätze, die jemandem in St.Gallen offenstehen, schlagartig eingeschränkt. Mobilität muss im Sinne der Teilhabe an der Gesellschaft für jeden erschwinglich sein. Da geht es um Zugang zum Bildungssystem, um Lebenschancen – da ist Mobilität sehr entscheidend.

Als Institut organisieren Sie auch einen Kongress in Berlin, den Smart Mobility Summit. Wie wird denn Mobilität smart?
Beispielsweise durch die Verknüpfung der Verkehrsträger. Es gibt Strecken, da sind andere Verkehrsträger besser, effizienter, schneller als ein Auto. Wir müssen die Verkehrsträger noch besser miteinander verzahnen. Es ist oft schwierig, von einem Verkehrsträger auf einen anderen zu wechseln – es bereitet Mühe und schafft Unsicherheit, darum machen es viele nicht. Da besteht Handlungsbedarf.

 

Und wer genau hat Handlungsbedarf – die Gesellschaft, der Staat, die Industrie?
Ganz oben ist es wohl der Staat. Er ist verantwortlich für den Umgang mit unserer Umwelt, mit unseren Lebensgrundlagen, die durch die Mobilität massiv beeinträchtigt werden. Mobilität führt zu einem grossen Flächenverbrauch – wir betonieren einen Drittel einer Stadt mit Verkehrsflächen zu.  Wir generieren enorme Emissionsmengen – allein vor diesem Hintergrund meine ich, dass wir anders über Mobilität nachdenken müssen.

«Wir müssen nachdenken» heisst: Es gibt noch keine Patentlösung.
Über all die Jahre habe ich gelernt, dass es diese eine Lösung nicht gibt. Mobilität hat ja auch viel mit Kultur zu tun. In den USA fahren morgens vor dem Kindergarten 150 SUV vor – aus jedem steigt ein Kind aus. In anderen Ländern haben wir eine nicht-inklusive Mobilität – viele Menschen haben keinen Zugang zu Mobilität, so wie sie heutzutage organisiert ist.

In der Schweiz wurde gerade ein punktueller Autobahn-Ausbau abgelehnt, während deutlich höhere Kosten für den Bahnausbau unbestritten blieben. Gesamtheitlich betrachtete Mobilitätslösungen scheinen es schwer zu haben.
Wir haben – nicht nur in der Schweiz – ein grundsätzliches Problem, wenn es um die Mobilität geht: Wir haben zwei Lager. Ein ÖV-Lager, das sich an politischen Parteien festmachen lässt, und ein Auto-Lager – auch da hängen bestimmte politische Parteien dran. Darum gibt es immer ein Spiel «Bahn gegen Auto, Auto gegen Bahn». Doch die Lösung muss heissen: Bahn und Auto.

 

Immerhin hatte das vermeintliche Autolager nicht gegen den Bahnausbau opponiert.
Es gibt bestimmte Verkehrssituationen, da ist die Bahn viel besser. Wenn man von Zürich nach Bern fahren will, ist die Bahn die beste Wahl – ohne Halt von City zu City, das kann man mit dem Auto nicht schlagen. Wenn ich aber vom Appenzellerland irgendwo hin will, ist es meistens sehr viel effizienter, das Auto zu nehmen – der ÖV kann nichts Vergleichbares leisten. Also müssen wir auf den Hauptachsen die Bahn ausbauen – daneben gibt es aber Bereiche, wo man fürs Auto ausbauen müsste.

Nach dem Nein drohen der Stadt St.Gallen für ein Jahrzehnt oder mehr 40000 zusätzliche Autos im Zentrum, während jeweils eine Röhre des Rosenbergtunnels saniert wird.
Das St.Galler Projekt im abgelehnten Ausbauprojekt hatte ich als sinnvoll erachtet. Wenn bestimmte Situationen massive Staus provozieren – die alles andere als ökologisch sind, Menschen behindern und durch Ausweichverkehr die Quartiere belasten –, dann muss man etwas tun. Die ideologische Lagerbildung ist bei der Beurteilung solcher Probleme nicht zielführend.

Text: Philipp Landmark

Bild: Leo Boesinger

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