Warum die Schweiz ihr Altersdenken neu justieren muss

Text: Paul Beerli, Verwaltungsrat, Beerligroup AG
Die nackten Zahlen sprechen Bände. Gemäss Bundesamt für Statistik lebten 2023 bereits 2'086 Hundertjährige in der Schweiz – ein Anstieg von 3,2 Prozent gegenüber 2022, rund 80 Prozent davon Frauen. Im Jahr 2024 zählte man über 523'000 Personen im Alter von 80 Jahren oder mehr, dazu bis zu 100'000 Menschen über 90.
Wer mit 65 in Pension geht, hat realistischerweise noch zwei Jahrzehnte aktives Leben vor sich. Zwei Jahrzehnte, die oft nicht genutzt werden. Hätte nur jede zehnte Person mit 65 nochmals ein Unternehmen gegründet, gäbe es heute 50'000 zusätzliche Firmen mit insgesamt 200'000 neuen Arbeitsplätzen. Ein gigantischer Hebel für den Wohlstand.
Was wir den Jungen beibringen – und was nicht
In Schulen lernen Jugendliche Bewerbungsschreiben, Lebensläufe und Motivationsbriefe. Doch kaum jemand bringt ihnen bei, wie man ein Geschäftsmodell entwickelt oder einen Businessplan schreibt.
Die Jugendkohorte (10–19 Jahre) umfasst rund 800'000 Personen. Würde nur jede zehnte davon später eine Firma gründen und führen, könnten 300'000 bis 400'000 neue Arbeitsplätze entstehen. Eine junge Gründergeneration würde die Innovationskraft unseres Landes massiv verstärken.
Wenn wir den Jugendlichen Unternehmertum statt nur Bewerbungsrituale lehren, pflanzen wir Wohlstand in die Zukunft.
Neue Mitte, neues Denken
Die Lebensmitte liegt heute nicht mehr bei 50, sondern bei 60. Wer 60 wird, sollte nicht ans Aufhören denken, sondern an den Neustart. Deshalb: Eine Geburtstagsfeier mit dem Motto «Jetzt beginnt die zweite Halbzeit» verändert nicht nur die Wahrnehmung des Jubilars, sondern auch die seiner Gäste.
Warum spielen 67-Jährige wöchentlich Fussball, schwitzen 90 Minuten lang, kämpfen um den Ball? Nicht, weil sie müssen, sondern weil sie wollen und Spass daran haben. Leidenschaft ist keine Altersfrage.
Die entscheidende Frage lautet für mich: «Wie viele neue Dinge habe ich in den letzten fünf Jahren kennengelernt?» Wer darauf keine überzeugende Antwort findet, hat womöglich die wichtigste Ressource des Lebens – geistige und soziale Beweglichkeit – aus dem Blick verloren.
Ich rate jedem 65-Jährigen zu einer beruflichen Standortbestimmung. Der Staat mag sagen, dass mit 65 Schluss ist – aber geistig, körperlich und mental darf man nie in Pension gehen. Wer sich das vornimmt, gewinnt mehr Jahre voller Sinn und Lebensfreude.
Die Zahl 65 ist keine naturgegebene Grenze, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion. Sie stammt aus einer Epoche, in der körperliche Arbeit das Leben prägte und die Lebenserwartung viel tiefer lag. Heute ist 65 eine künstliche Barriere, die zu früh kommt und wertvolles Potenzial verschwendet.
An einem Rotary-Lunch sagte ich kürzlich: «Ich selbst bin 71 Jahre alt. Als mich jemand fragte, wie alt ich einmal werden möchte, antwortete ich: 85. Das gibt mir noch 14 Jahre, um Neues zu unternehmen – warum also nicht eine Firma gründen? Der Impuls lebt, solange man ihn zulässt.»
Die Schweiz steht an einem Wendepunkt. Unsere Gesellschaft altert, und mit ihr wachsen die Herausforderungen für Arbeitsmarkt, Sozialwerke und Innovationskraft. Doch statt in dieser Entwicklung eine Bedrohung zu sehen, sollten wir beginnen, sie als Chance zu begreifen. Notwendig ist ein neues Altersdenken – eines, das unsere Wirtschaft stärkt, statt sie zu lähmen.
Erstens: Wir brauchen eine Kultur, die Unternehmertum über alle Generationen hinweg fördert. Innovation darf nicht nur ein Privileg der 25-Jährigen sein. Junge Gründer bringen frische Ideen, Ältere unternehmerische Reife und Netzwerke. Wenn beide Gruppen zusammenfinden, entsteht ein Innovationsmotor, der nachhaltiger wirkt als jede kurzfristige Finanzspritze.
Zweitens: Erfahrung ist kein Auslaufmodell, sondern ein unterschätztes Kapital. In einer Zeit, in der viele Unternehmen über Fachkräftemangel klagen, wäre es kurzsichtig, Menschen mit 55 oder 60 aus dem produktiven Leben zu drängen. Know-how, Führungserfahrung und Krisenresistenz lassen sich nicht in ein paar Monaten an Hochschulen nachliefern – sie wachsen über Jahre. Wer sie nutzt, verschafft unserer Wirtschaft einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.
Drittens: Alter ist kein Defizit, sondern eine Ressource. Ein 70-Jähriger, der ein Unternehmen gründet, tut das oft mit Gelassenheit und langfristigem Blick, frei von der Jagd nach schnellen Gewinnen. Solche Projekte können zu stabilen, werteorientierten Firmen heranwachsen – genau das, was in Zeiten globaler Unsicherheiten gebraucht wird.
Das neue Altersdenken muss also weg von der Defizitperspektive, hin zu einem produktiven Miteinander. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Potenziale freisetzen: flexible Erwerbsmodelle, altersdurchmischte Teams, bessere Zugänge zu Risikokapital für Gründer in jeder Lebensphase.
Die Schweiz hat alle Voraussetzungen, hier zum Vorbild zu werden – wenn wir erkennen, dass die Zukunft nicht trotz, sondern mit dem Alter gestaltet wird.
65 ist eine dumme Zahl – höchste Zeit, dass wir sie neu denken.