Gast-Kommentar

Warum bleiben? – Ein Experiment mit Arendt

Warum bleiben? – Ein Experiment mit Arendt
Louis Grosjean
Lesezeit: 3 Minuten

Mitarbeiterbindung und -motivation sind Leader-Aufgaben. Die Motivation für den Verbleib am aktuellen Arbeitsplatz kann unterschiedlich sein. Drei Kriterien, abgeleitet von Hannah Arendts Werk «Vom tätigen Leben», können zur Orientierung dienen, weist Louis Grosjean nach.

Text: Louis Grosjean, Partner altrimo

«Was bindet mich eigentlich an meinen Job?» «Warum suche ich nicht das Weite, das sprichtwörtlich grünere Gras auf der anderen Seite?» Diese Frage hat sich jeder im Arbeitsleben schon mal gestellt. Daher weiss auch jeder: Wer sich die Frage bewusst stellt, hat mindestens die halbe Strecke in Richtung Kündigung zurückgelegt.

In Zeiten des Fachkräftemangels tun Leader gut daran, sich die Frage proaktiv zu stellen. Nur wer eine Antwort für sich findet, hat die Chance, seine Mannschaft zu überzeugen. Oder, wie es Augustinus von Hippo sagte: «Nur wer selbst brennt, kann das Feuer in anderen entfachen.»

Aber wo finden wir das Feuer, die Antwort? In uns selbst, in unserer menschlichen Natur. Da hilft mir Hannah Arendt, die politische Denkerin des XX. Jahrhunderts, weiter. «The Human Condition» ist eines ihrer Hauptwerke. Dort beschreibt sie das Wesen des modernen Menschen mit drei Eigenschaften. Ich lade deshalb zum Experiment ein, mit folgender These: Gründe für die Mitarbeiterbindung liegen in den drei Eigenschaften der menschlichen Natur nach Arendt. Schauen wir uns das genauer an.

Was macht den tätigen Menschen aus?

Die erste Eigenschaft klingt komisch in unseren Ohren. Der Mensch sei ein animal laborans: ein arbeitsames Tier. Er arbeite, um zu leben und zu konsumieren. Dieses Bild des animal laborans prägt heute noch das Arbeitsrecht: Das Arbeitsverhältnis ist gemäss Obligationenrecht die Leistung von Arbeit gegen Lohn. Wir arbeiten und sind an einen Arbeitsplatz gebunden, weil uns dieser Arbeitsplatz den Lebensunterhalt sichert.

Zweitens sei der Mensch aber auch dazu da, um bleibende Werke zu erschaffen. Das sei der homo faber, der herstellende Mensch. Ein Beispiel dafür ist der Architekt: Er arbeitet nicht nur, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Er will auch durch seine Werke gewissermassen seine eigene Endlichkeit überdauern. Wer an seinem Arbeitsplatz die Möglichkeit sieht, Bedeutsames zu erreichen oder Gutes zu tun, wird von diesem Streben beseelt und sieht von einem Wechsel ab.

Drittens sei der Mensch ein zoon politicon – ein Lebewesen in der Gemeinschaft. Er interagiert mit seinen Mitmenschen, um die Gesellschaft zu gestalten. Das Schweizer Milizsystem in Vereinen und Politik kommt dieser Beschreibung nahe. In der Arbeitswelt sind es Themen wie Mitsprache oder Qualität der Beziehungen im Team, die dem zoon politicon entsprechen. Fühlt man sich wohl und ernst genommen, hat man weniger Grund zum Wechsel. Daher ist ein schlechter Chef der Grund für viele Abgänge.

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Wann verlieren wir die Überzeugung?

Das Experiment besteht in einem ersten Schritt darin zu überlegen, welche der drei Eigenschaften für uns als Leader gegeben sein müssen: genügender Lebensunterhalt, Erschaffung von bedeutsamen Werken, Qualität der menschlichen Interaktion?

In einem zweiten Schritt ist zu überlegen, wie gut diese Kriterien am aktuellen Arbeitsort erfüllt sind.

Der dritte Schritt ist der schwierigste, aber dafür entscheidend: Schritt 1 und 2 sind für jedes Team-Mitglied zu wiederholen. Warum soll die Person in meinem Team bleiben wollen? Welche der drei Eigenschaften sind aktuell gegeben?

Zur Überprüfung und als vierter Schritt ist der explizite Austausch dazu zwischen Leader und Team-Mitglied zu empfehlen.

Ich bin zutiefst überzeugt: Wer diese drei Dimensionen der menschlichen Natur in seinem Team fördert, wird seine Team-Mitglieder begeistern können.

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