Politik der Überraschungen

Text: Alessandro Sgro, Chief Investment Officer Cronberg AG
Die Schlagzeilen der letzten Monate liessen ein volatiles Börsenhalbjahr vermuten. Und tatsächlich: Einzelne Tage im April boten Kursbewegungen, wie sie nur selten vorkommen. Der sogenannte «Liberation Day», an dem der US-Präsident in einem pompös inszenierten Akt wirtschaftspolitischer Rebellion umfassende Zölle auf US-Importe verhängte, liess den S&P 500 binnen zweier Handelstage um über zehn Prozent einbrechen. Das war gleichbedeutend mit der schnellsten und stärksten Korrektur in der jüngsten Börsengeschichte. Doch wer aufgrund dieses Ereignisses auf ein insgesamt volatiles Gesamtbild schliesst, liegt falsch. Die realisierte Volatilität war im historischen Vergleich über das gesamte Halbjahr betrachtet erstaunlich normal. Die Märkte verhielten sich, von wenigen Eruptionen abgesehen, bemerkenswert stabil.
Traditionell agieren Börsen als Frühindikatoren für die Wirtschaft. Doch im aktuellen Umfeld reagieren sie zunehmend auf Überraschungen, statt vorhersehbare oder erwartbare Entwicklungen zu antizipieren. Dieser Verlust an Erwartbarkeit stellt eine strukturelle Herausforderung dar, weil politische Eingriffe nicht nur Kurse, sondern auch unternehmerische Planbarkeit beeinträchtigen. Dies dürfte in den kommenden Monaten so weitergehen. Darauf deutet das aktuelle Vorgehen der US-Regierung zum Ende der 90-Tage-Zollpause. Einige Staaten wie Japan und Südkorea erfuhren dies bereits in Form eines Briefes mit der Kommunikation von hohen Zöllen. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieses Kommentars war unklar, ob auch für die Schweiz höhere Zölle verhängt werden. Eine Rückkehr zur Zeit vor dem «Liberation Day» scheint unwahrscheinlich. Klar ist: Das Hin und Her wird weitergehen und für Unruhe sorgen.
In einer Welt, in der politische Entscheidungsträger nach Willkür regieren, verlieren die Märkte ihre wichtigste Orientierungsgrundlage: Erwartungen. Für die Entwicklung der Märkte geht es im Kern um Gewinnerwartungen. Aktuell zeigt sich die Gewinnsituation und damit die konjunkturelle Verfassung aber erstaunlich robust, insbesondere in den USA. Doch je länger die Unsicherheiten anhalten, desto zurückhaltender werden die Unternehmen in der Investitionspolitik, was sich mittel- und langfristig in der Konjunkturentwicklung negativ bemerkbar macht. Diese Effekte dürften erst in den Q3-Ergebnissen allmählich sichtbar werden. Mitte Juli beginnt nun zuerst die Berichtsaison zum zweiten Quartal.
Wenn Märkte nicht mehr antizipieren, sondern nur noch reagieren, verlagert sich die Unsicherheit weg von den Kursen, hinein in die Fundamente des Vertrauens. Genau hier liegt die Bruchlinie, die sich im zweiten Halbjahr 2025 weiter vertiefen könnte. Denn was nun folgt, ist ein institutioneller Belastungstest: das Vertrauen in die fiskalische und finanzielle Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten selbst. In dieses Kapitel gehört die höchst umstrittene «Big Beautiful Bill» mit massiven Steuersenkungen, neue Subventionen und einem steigenden Haushaltsdefizit. Besonders brisant war die kurzzeitig enthaltene «Section 899», die als «Rachesteuer» eine Erhöhung der Quellensteuer auf Kapitalabflüsse vorsah – ein alarmierender Eingriff in internationale Finanzströme. Auch wenn dieser Abschnitt gestrichen wurde, zeigt es, was künftig zu erwarten ist, wenn sich die Welt nicht in die aus US-Sicht gewünschte Richtung entwickelt: ein zunehmendes politisches Risiko für global diversifizierte Anlegerinnen und Anleger.
Auf der anderen Seite ist die USA auch sehr verwundbar. Seit Jahren steigt der Refinanzierungsbedarf der Vereinigten Staaten rapide an. Allein bis Ende 2025 laufen über sieben Billionen US-Dollar an Schuldtiteln aus – ein Volumen, das neue Emissionen zwingend erforderlich macht. Bisher verliefen US-Anleiheauktionen erfolgreich. Doch bereits kleine Signale eines nachlassenden globalen Vertrauens können auf den Bondmärkten grosse Ausschläge verursachen. Ein Rückgang ausländischer Käufe würde die Refinanzierungskosten in die Höhe treiben, mit weitreichenden Konsequenzen für den gesamten globalen Kapitalmarkt. Hinzu kommt: Die geopolitische Polarisierung der letzten Monate hat das Dollar-Primat bereits angekratzt. Einige Schwellenländer und rohstoffreiche Staaten diskutieren Alternativen zur USD-Bindung ihrer Währungsreserven.
Für Anleger ergibt sich ein ambivalentes und teils fragiles Bild: Die Märkte wirken stabil, doch unter der Oberfläche wachsen fiskalische Risiken. Wer in einem solchen Umfeld erfolgreich bestehen will, braucht mehr als nur Marktgefühl. Entscheidend sind drei Grundsätze:
- Diversifikation bleibt der effektivste Schutz gegen politische Einzelrisiken.
- Qualität zählt: Unternehmen mit solider Finanzierung und verlässlichen Cashflow bringen Stabilität ins Portfolio.
- In einem Umfeld wachsender US-Verschuldung und politischer Unberechenbarkeit sollten Fremdwährungspositionen aktiv gesteuert und nicht dem Zufall überlassen werden.
Und letztlich zählt grundsätzlich: Nicht das Reagieren auf jeden Ausschlag bringt Erfolg, sondern das Festhalten an einer robusten, vorausschauenden Anlagestrategie. Denn wer auf verschiedene Szenarien vorbereitet ist, wird nicht überrascht und vermag das Kernziel eines konstanten Vermögensaufbaus gelassen verfolgen. Hier setzen wir täglich mit unserer bewährten Anlagemethodik an. Sollten sich im zweiten Halbjahr Marktkorrekturen ergeben, sehen wir dies in einem intakten Aufwärtstrend als Bewertungskorrekturen, die es uns ermöglichen, zu tieferen Kursen Positionen neu oder weiter aufzubauen, ganz im Sinne eines überzeugten aktiven Managementansatzes.