Hans-Werner Sinn blickt in die Zukunft
Die Anlegerapéros der Ostschweizer Regionalbank acrevis Anfang Januar haben eine lange Tradition – ebenso wie die Auftritte namhafter Gastredner. An den beiden Abenden sprach mit Prof. Hans-Werner Sinn (Bild), einer der profiliertesten Ökonomen Europas, in St.Gallen und Pfäffikon SZ zu nahezu tausend Zuhörern. Der emeritierte Präsident des deutschen Forschungsinstituts ifo nahm die Bankkunden auf eine Reise zu den aktuell drängendsten Punkten in der globalen Wirtschaft und deren Auswirkungen auf Europa mit.
Prof. Hans-Werner Sinn über ...
... die Zinsen in Europa:
«Wir haben heute extrem niedrige Zinsen, die eine Staatsverschuldung fast ohne Zins ermöglichen. Das ist aber nicht risikofrei, da die Steuerzahler in der Eurozone implizite Eigentümer der Europäischen Zentralbank (EZB) sind und das Risiko tragen. Als Schweizer können Sie sich glücklich schätzen, dass Sie da nicht dabei sind. Die EZB hat aus zwei Gründen ein Interesse daran, die Zinsen niedrig zu halten. Zum einen zur Belebung der Wirtschaft. In der Eurozone befinden sich viele Länder immer noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau, was die Produktion des verarbeitenden Gewerbes betrifft, die ein Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ist. So weist Spanien heute erst 75 % der Vorkrisenleistung auf. Auch Frankreich hat erst 87 % seiner damaligen Leistung erreicht, während Deutschland 103 % vorweisen kann. Zum anderen möchte die EZB mit den niedrigen Zinsen das grosse Schuldenproblem lösen, da vor allem die Länder im Süden Europas nicht in der Lage sind, Marktzinsen zu zahlen.»
... Italien:
«Italien ist gefährdet. Die Wahrscheinlichkeit fällt von Jahr zu Jahr, dass Italien in der Eurozone bleibt. Grund ist die riesige Verschuldung in Höhe von 132 % des Bruttoinlandsprodukts. Auch die italienischen Banken stehen am Rande der Pleite. Es stellt sich die Frage, ob Italien in den nächsten Jahren aus der Eurozone austreten oder beim Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM Unterschlupf suchen wird.»
... die Inflation:
«Die Inflation hat begonnen. Derzeit beträgt die Inflation in der Eurozone 1,1 %, in Deutschland sogar 1,7 %. Das ist den dauerhaft niedrigen Zinsen und dem Aufkauf der Wertpapiere durch die EZB geschuldet. Dadurch wird die Geldmenge enorm gesteigert und gleichzeitig der Euro abgewertet. Die deutliche Abwertung des Euro ist von der EZB gewollt, um die Inflation zu erhöhen. Hier will ich an die einzige Aufgabe der EZB erinnern: Sie darf keine Inflation produzieren, sondern muss für Preisstabilität in der Eurozone sorgen. Das bedeutet, dass die Inflation bei 0 % liegt und nicht bei dem von der EZB mittelfristig ausgegebenen Zielwert von 2 %. Sie hilft sich mit dem semantischen Trick, 2 % als Preisstabilität zu verkaufen. Ausserdem definiert sie diesen Zielwert als Durchschnittswert. Das bedeutet, dass über einen Zeitraum auch eine Inflation von 4 % möglich ist. Das ist mittelalterliche Scholastik. Diese Politik hat eine weitere Folge: die Flucht ins Betongold. In der Schweiz sind die Immobilienpreise seit der Lehman-Krise um 16 % gestiegen, in Deutschland sogar um 31 %. Ist das bereits eine Blase? Ich meine nicht, die Lage muss aber im Blick behalten werden. In Österreich hingegen sollten die Alarmglocken klingeln. Dort haben die Immobilienpreise in diesem Zeitraum um 56 % zugelegt.»
... das Schuldenproblem in Europa:
«Der öffentliche Schuldenstand ist so hoch wie nach dem Zweiten Weltkrieg und macht Staaten wie auch Unternehmen unflexibel. 2011 hatten mehr als die Hälfte der Euroländer eine Verschuldungsquote von mehr als 60 Prozent und somit den Maastricht-Vertrag zur Begrenzung der Verschuldung gebrochen. Dennoch sind die Schulden seither weiter gestiegen. So betrug die Verschuldungsquote von Griechenland 2015 177 % – deutlich höher als 2011 und das trotz eines Schuldenschnitts von 60 %. Die EU sieht aber darüber hinweg, um inländische Impulse auszulösen. Gleichzeitig helfen die niedrigen Zinsen und die steigende Inflation den Schuldenländern. Es ist die Strategie der EZB, den Norden Europas nachzuinflationieren. Der EU bleiben kaum andere Optionen. Eine Transferunion ist teuer, eine Deflation im Süden kann die dortigen Gesellschaften zerreissen und ein Austritt eines Mitglieds ist ebenfalls nicht gewünscht. Eine Nachinflationierung des Nordens bedeutet, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren eine Inflation von 4,5 % aufweisen müsste, während Italien und Co. bei Null bleiben. Ob Deutschland das tolerieren wird?»
... den Trump-Effekt:
«Die Wahl Trumps hat sofort Effekte gezeigt. Die Zinsen in den USA sind direkt nach seinem Wahlsieg gestiegen. Die Zinswende hat begonnen, und es ist in den USA auch Zeit dafür. Die Wirtschaft boomt seit längerer Zeit. Trump will weg von den Niedrigzinsen, die für ihn Zeichen einer falschen Ökonomie sind. In diesem Punkt hat Trump recht. Zombiemaschinen wie die Zentralbanken Japans und Amerikas haben zu viele Halbtote am Leben erhalten und damit einen Strukturwandel verhindert. Die EZB macht übrigens das Gleiche in Europa. Trumps Programm – Steuersenkungen und steigende Staatsausgaben – führt zu steigenden Zinsen und erinnert an die erste Amtsperiode von Ronald Reagan ab 1980. Durch die steigenden Zinsen in den USA gerieten viele Schwellenländer in Lateinamerika in Probleme, die letztlich in einer Weltschuldenkrise mündeten. Das könnte sich wiederholen. Meine Befürchtung ist, dass das neue Lateinamerika in Südeuropa liegen könnte.»
Auf Realwerte setzen
Dr. Michael Steiner, Ökonom und Leiter Private Banking bei acrevis, ordnete die Aussagen von Prof. Sinn ein und zeigte auf, was die globalen Entwicklungen für die langfristige Anlagestrategie der Kunden der acrevis Bank bedeuten. In einem Umfeld erhöhter Unsicherheit, ausgedehnter Geldschwemme und negativer Realzinsen spielen Anlagen mit Realwertcharakter eine zentrale Rolle. Zu den Realwerten gehören Aktien von Qualitätsunternehmen, Rohstoffe, Gold und Immobilien. Insbesondere Aktien sind eine gute Möglichkeit, sich gegen eine höhere Inflation abzusichern.
«Bei den Aktien sind Unternehmen mit gesunden Bilanzen, soliden Cashflows und konstanten Dividenden im Fokus», sagte Dr. Steiner. Als mögliche Beispiele nannte er unter anderem Bossard, Logitech, Royal Dutch Shell und Diageo. Zugleich betonte er die Diversifikation als zentralen Anlagegrundsatz. «Gerade in Zeiten des Anlagenotstands ist es von grosser Bedeutung, die Risiken zu streuen. So kann eine Basis für den Werterhalt respektive für den Vermögensaufbau gelegt werden.»