Gast-Kommentar

Aufbau und Trennung?

Aufbau und Trennung?
Text: Louis Grosjean (Bild), Partner altrimo
Lesezeit: 3 Minuten

Stimmen Anforderungen und Mitarbeiterprofil nur teilweise überein, sind sich viele Führungskräfte über das Vorgehen unsicher. Dabei gibt es klare und weniger klare Fälle. Einige Gedanken zum Thema «Menschen aufbauen» in solchen Situationen hat sich Louis Grosjean in unserer Serie «LEADER-Philosophie» gemacht.

Vier mögliche Aussagen einer Führungskraft über die eigenen Mitarbeiter mögen als Auslegeordnung dienen: «Die ist top. Wenn ich sie verliere, bin ich aufgeschmissen.» «Der macht einen guten Job.» «Das wird noch eine Herausforderung. Vielleicht packt sie es, vielleicht auch nicht.» «Der ist untragbar.»

Diese vier Aussagen spiegeln mehr oder weniger die Gausssche Kurve der Mitarbeiter in einem Team. Das Kriterium lautet von «völlige Übereinstimmung» bis «keine Übereinstimmung» zwischen Job-Anforderungen und Mitarbeiterprofil. Dies ist natürlich sehr schematisch dargestellt. Ich erlaube mir dennoch diese Vereinfachung für die weiteren Überlegungen.

Fall 1 («top») und 2 («guter Job») sind in der Regel unproblematisch. Im Fall 4 («untragbar») ist klar: Es muss zur Trennung kommen.

Fall 3 («vielleicht») hingegen halte ich für die grösste Herausforderung. Diesen möchte ich deshalb mit einigen Gedanken beleuchten.

Menschen aufbauen – sogar als Lebensziel

Einer meiner Lieblingsgedanken in der modernen Philosophie der Arbeitswelt stammt von Prof. Clayton M. Christensen, ehemaliger Professor an der Harvard Business School, der 2020 im Alter von 67 verstarb. Sinngemäss sagt uns Christensen in einem 2011 publizierten Artikel zum «Sinn des Lebens»: Menschen aufzubauen sei neben einem glücklichen Familienleben und der Vermeidung von Strafverfahren das lohnenswerteste Ziel für Leader.

Übertragen auf unseren Fall 3 könnte folgende Überlegung zutreffen: Die betreffende Mitarbeiterin ist bei der aktuellen Stelle «auf der Kippe», aber auf der Gaussschen Kurve möglicherweise besser positioniert, wenn sie die Stelle wechselt.

Diese Überlegung spricht für einen Dialog zwischen Führungskraft und Mitarbeiterin, der nicht auf die aktuelle Stelle fokussiert ist. Viel zielführender ist ein offener, von der aktuellen Stelle losgelöster Weiterentwicklungsdialog. Sofern das Vertrauensverhältnis stark genug ist, kann diese Diskussion zwischen Führungskraft und Mitarbeiterin direkt erfolgen. Ist das Vertrauensverhältnis hingegen zu dünn, wird der Beizug einer dritten Person für diese Standortbestimmung unumgänglich.

Auf jeden Fall setzt dieser Dialog Ergebnisoffenheit sowohl von der Führungskraft als auch von der Mitarbeiterin voraus: Vielleicht wird das Arbeitsverhältnis weitergeführt, vielleicht aber auch nicht.

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Weitere Faktoren

Soweit die Weiterführung der Gedanken von Prof. Clayton in Bezug auf unseren Fall 3. Aus meiner Sicht spielen noch weitere Faktoren eine Rolle. Zwei davon möchte ich kurz erwähnen.

Erstens haben die meisten Unternehmen und Führungskräfte ein soziales Gewissen. Wenn die private oder finanzielle Situation eines Mitarbeiters sehr belastet ist, liegt es auf der Hand, dass Weiterentwicklungsdialoge Angst auslösen können. Vielleicht vertagt man in solchen Fällen einen Trennungsentscheid oder gar den Beginn einer solchen Diskussion.

Zweitens gibt es, umgekehrt, unternehmerische Situationen, die rasches Handeln erfordern. In einer Sanierungssituation wird sich ein Unternehmen von einem «Fall-3-Mitarbeiter» oft ohne grosse Diskussion trennen müssen.

Aufbau kann Neubeginn bedeuten

Zusammenfassend: Menschen aufzubauen bedeutet nicht immer, Mitarbeiter weiterhin zu beschäftigen. In meinen Augen nimmt ein Leader immer auch ein bisschen die Rolle einer Berufsberatungsstelle ein. Sich zu überlegen, was den Mitarbeiter aufbaut, und zwar losgelöst von der aktuellen Arbeitsstelle: Diese Abstraktion lohnt sich.

Langfristig verspricht dies bessere Ergebnisse als krampfhafte Zielerreichungsdiskussionen mit gemischten Ergebnissen.

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