«Der Binnentourismus ist richtig durchgestartet»

«Der Binnentourismus ist richtig durchgestartet»
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Die Touristen aus aller Welt blieben im Corona-Schock plötzlich aus. Doch in der Schweiz ging das Reisefieber während der Pandemie nicht zurück – unsere Compatriotes kamen auf Entdeckungstour in die Ostschweiz.

Die Coronapandemie war vielleicht das einschneidendste globale Ereignis der letzten Jahrzehnte. Die unbekannte und schwierig einzuschätzende Bedrohung führte unter anderem dazu, dass 2020 viele Länder ihre Grenzen schlossen. Die weltweite Reisetätigkeit wurde auf Sparflamme gesetzt, dem Tourismus ein arger Schlag versetzt. Der Mensch ist grundsätzlich ein mobiles Wesen. Das Bedürfnis, in der Freizeit unterwegs zu sein, wurde vom Virus nicht dahingerafft. «Wir sind abenteuerlustig und haben den Drang, Neues zu entdecken», sagt Pietro Beritelli, Professor am Research Center for Tourism and Transport im Institut für Systemisches Management und Public Governance der HSG. Deshalb gehe der Mensch auf Reisen – «und findet dort meistens sich selbst.» Untersuchungen in der Pandemie zeigten auf, dass die potenziellen Touristen nicht nur Angst vor gesundheitlichen Gefährdungen hatten, sondern auch vor organisatorischen Risiken – «insbesondere die Frage ‹komme ich überhaupt wieder nach Hause?› stellte sich», sagt Beritelli. Wenn die Grenzen unüberwindbar werden, reist man eben innerhalb dieser Grenzen.

Westschweizer reisen in den Osten

2020 oder 2021 brauchte man in der Ostschweiz nicht besonders die Ohren zu spitzen, um allenthalben Französisch zu hören. Tatsächlich hatten sich viele Westschweizer erstmals oder seit Langem wieder einmal aufgemacht, um la Suisse orientale zu besuchen. «2020 ist der Binnentourismus richtig durchgestartet», bestätigt Pietro Beritelli. In alle Richtungen: «Auch viele Deutschschweizer haben die Romandie neu entdeckt.» Für viele – nicht alle – Tourismusanbieter im Inland war dies nach dem ersten Schock eine ziemlich gute Nachricht: Die Schweizer Bevölkerung ist vergleichsweise zahlungskräftig, die neuen Touristen aus dem eigenen Land haben oft mehr ausgegeben, als es internationale Gäste zuvor taten. «Es ist ja nicht so, dass Asiaten immer viel Geld ausgeben», erklärt Pietro Beritelli, «gerade Organisatoren von Gruppenreisen drücken die Preise.» Die Pandemie habe zudem gezeigt, dass auch die Einheimischen einen wichtigen Nachfrage-Beitrag für touristische Leistungen bilden. Dies sei in der Ostschweiz noch mehr als anderswo der Fall, denn hier könne man «stolz sein auf die Lebensqualität, auf die authentische Landschaft und im Vergleich zu Interlaken oder Luzern auf weniger überlaufene Tourismus-Spots.»

  

Städtetourismus verliert an Bedeutung

Viele Anbieter im ländlichen Raum haben sich dank des Binnentourismus gut erholt, während in urbanen Räumen Gastronomie und Eventbranche zum Teil noch heute leiden. «Der Städtetourismus, insbesondere der Geschäftsreise-Tourismus, hat dauerhaft an Bedeutung verloren», ist Pietro Beritelli überzeugt. Die Nachfrage durch Geschäftsreisen werde künftig nicht mehr so stark sein, viele Meetings blieben auf einen Videocall beschränkt. Grosse Messen und Ausstellungen wie auch internationale Konferenzen haben nicht erst seit der Pandemie viel Terrain eingebüsst, «die Messe Basel etwa hatte schon vor Corona stark gelitten». Demgegenüber würden kleinere Events wieder funktionieren, «auch Themenmessen wie gerade die Tier & Technik in der Olma». Pietro Beritelli kennt als Präsident von Heidiland Tourismus den Tourismus auch aus der praktischen Perspektive. «Im ländlichen Raum den Freizeit- und Seminartourimus zu fördern, ist ein passender Ansatz», sagt er. Deshalb hält er die gerade in Appenzell Innerrhoden formulierte Tourismus-Strategie für glaubwürdig. Allerdings liessen sich die dort erwünschten zusätzlichen Übernachtungsgäste kaum aus Tagesausflüglern generieren.

Hierarchie der Reise-Entscheide

«Unsere eigene Forschung zu Tagestourismus zeigt auf, dass normalerweise der Zeitrahmen vorgegeben ist», hält Beritelli fest, «das Zeitbudget wird vor dem Reiseziel festgelegt.» In einer Studie für das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat er die konstituierenden Elemente einer Reise ermittelt. «Es gibt eine klare Hierarchie», sagt der Professor: «Erst klären wir, mit wem wir reisen. Dann bestimmen wir den Reisezeitpunkt und die Dauer. Erst dann wird festgelegt, wohin es überhaupt gehen soll. Schliesslich werden noch Verkehrsmittel und Übernachtungsmöglichkeiten geklärt.» Pietro Beritelli macht immer wieder mit seinen Studenten Befragungen von Touristen, um herauszufinden, warum jemand eine Reise unternommen hat. «Das sind sehr simpel gestrickte Entscheide, um das zu verstehen, braucht es keine Voodoo-Science.» Befragt werden Touristen auch nach der typischen Image-Werbung von Tourismus-Destinationen. «Die kommt nicht rüber. Wir haben keinen Einfluss der Werbung auf Reiseentscheide entdeckt», sagt Beritelli. Und fügt fast schon entschuldigend an: «Ich weiss, das tönt seltsam.» Als Präsident von Heidiland Tourismus hat er die Konsequenzen aber gezogen: «Wir machen seit Jahren keine Image-Werbung mehr, und es ist nichts passiert.» Schöne Bilder können sich im Kopf festsetzen, aber wirkungslos bleiben. Aus Befragungen kennt man das Phänomen, dass Menschen von Orten träumen – aber trotzdem nicht dorthin reisen, obwohl sie Zeit und Geld dafür hätten. «Mund-zu-Mund-Propaganda von Freunden und Bekannten ist immer noch die beste Werbung», ist der Tourismusexperte überzeugt und rät deshalb: «Lasst die Gäste das Marketing für Euch machen!» Was früher schöne Postkarten waren, seien heute spektakuläre Instagram-Bilder, «das ist sehr wirkungsvoll». Das bedeutet nun nicht, dass die Tourismus-Organisationen die Hände in den Schoss legen können. «Sie müssen die Gäste gut informieren und ihre Leistungsträger gut beraten – etwa dafür sorgen, dass die Sichtbarkeit des Angebots im Internet gut ist.»

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Gast produziert Erlebnisse selbst

Überdies hätten die Gäste viel mehr Kontrolle, als man meinen könnte. «Ein Gast trifft während der Reise fortwährende Entscheide, er produziert seine Reise-Erlebnisse eigentlich selbst», betont Pietro Beritelli. Die Anbieter würden nur Leistungen dafür zur Verfügung stellen – «Bühnen, die erst der Gast aktiviert». Eine Erkenntnis, die zu einer anderen Haltung bei Hotels und Eventveranstaltern führen sollte, «sie müssen möglichst zugänglich und offen für die Erlebnisse der Gäste sein». Gäste wollten immer Neues entdecken, «in Paris geht man nicht jeden Tag auf den Eiffelturm». Wohin es die Touristen in der französischen Metropole zieht, weiss man allerdings sehr genau. «Weder Paris noch St.Gallen sind per se touristische Städte», sagt Pietro Beritelli, diese und andere Ziele seien vielmehr eine Abfolge von touristischen Spots. «Wer zum ersten Mal in Paris ist, besucht den Eiffelturm und das Champ de Mars, den Louvre und die Champs Élysées, dann Sacré-Coeur. Man kann das mit Datenspuren sehr genau rekonstruieren. Kein Tourist verläuft sich in die Banlieues.» Ortschaften oder Länder sind gemäss Beritelli keine touristischen Destinationen. «Nicht das Dorf Appenzell lockt die Touristen an, es sind bestimmte Plätze, bestimmte Strecken, die Touristen absolvieren. Zwei Gassen weiter hat es keine Touristen mehr.» Tourismus passiere an ganz bestimmten Orten, erklärt Beritelli, die Touristen verhielten sich wie Ameisen, die einer Pheromonspur folgen. Wenn sie kommen, dann kommen sie: «Man kann das nicht einfach stoppen, im Guten nicht wie im Schlechten.» Darum seien ein Berggasthaus Aescher genauso wie das Zentrum von Venedig saisonal überlaufen. Umgekehrt nütze es nichts, schöne Orte zu bewerben, wenn sie insgesamt zu wenig attraktiv sind, etwa, wenn die Infrastruktur fehlt. Oder wenn die Infrastruktur da ist, aber ein anderes entscheidendes Detail fehlt: der Schnee. Der aktuelle Winter hat den Wintersport-Destinationen erneut vor Augen geführt, dass ihnen der Klimawandel ein Problem bescheren wird.

 

Attraktiv auch ohne Schnee

«Die Bergbahnen sind jetzt daran, was sie schon viel länger hätten tun sollen: Sie diversifizieren ihr Angebot», sagt Pietro Beritelli. «Der Berg muss zu unterschiedlichen Zeiten, auch ohne Schnee, attraktiv sein, zum Wandern, zum Biken.»

Noch würde die Diversifizierung aber nicht das ganze Geschäft retten, die klassische Wintersaison sei weiterhin ein wichtiger Faktor. Das Bergerlebnis im Frühling, Sommer oder Herbst zu vermarkten, sei halt für Bahnen nicht so einträglich wie der Winter, wenn deutlich mehr Geld ausgegeben wird.

Text: Philipp Landmark

Bild: Thomas Hary

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