Auf eigenes Risiko mehr eingekauft

Auf eigenes Risiko mehr eingekauft
CEO Nicolas Härtsch in der Produktion der Varioprint AG in Heiden.
Lesezeit: 7 Minuten

Die Varioprint AG in Heiden nutzt die Pandemie, um internes Optimierungspotenzial zu ergründen – «dann kommen wir nach der Krise fit raus und versuchen, unser Unternehmen weiterzuentwickeln», erklärt CEO Nicolas Härtsch.

Als Nicolas Härtsch 2019 ins Unternehmen Varioprint AG eintrat, konnte er noch nicht ahnen, dass er mit der Übernahme der Geschäftsführung im Sommer 2020 ein Manager im Krisenmodus sein würde. Der innovative Hersteller von Leiterplatten in Heiden galt und gilt als Ostschweizer Vorzeigeunternehmen – kein Wunder sagt Härtsch, in der Varioprint gäbe es «viel Gutes und Bewährtes, auf dem wir aufbauen.» Heute sagt der neue Chef aber auch: «Die Coronakrise hat mir die Chance gegeben, innerhalb der Varioprint eine andere Wahrnehmung auf gewisse Dinge zu erreichen.» Wenn Business as usual durch einen äusseren Faktor ohnehin gestört wird, ist es plausibler, Neuerungen zu implementieren. Einfach ist es dennoch nicht. Nur schon, als neuer Chef eine gewisse Nähe zur Belegschaft aufzubauen, ist in einer solchen Situation viel schwieriger. «Ich habe schon darunter gelitten, immer Restriktionen anordnen zu müssen, anstatt regelmässig mal ein Fest zu feiern», gibt Nicolas Härtsch zu bedenken, «das ist in den letzten zwei Jahren massiv zu kurz gekommen.»

Homeoffice als Kulturwandel

2020, im ersten Coronajahr, kam das Unternehmen um eine Betriebsschliessung herum, «aber wir mussten Knall auf Fall ein Schutzkonzept implementieren», erinnert sich Härtsch. Dazu gehörte, dass für die Mitarbeiter im Büro so weit als möglich Home- oder Splitoffice angeordnet wurde – «Homeoffice war in unserer Unternehmung vorher nicht bekannt.» Der kleine Kulturwandel gelang gut, weil auch die technische Umsetzung gut durchdacht war. Auch in den anderen Bereichen sei das Schutzkonzept «relativ radikal» gewesen: Im Betrieb wurden Schichten gesplittet, es gab keine physischen Schichtübergaben mehr, es wurden zusätzliche Pausenräume eingerichtet und für alle Räume Personenzahlbegrenzungen festgelegt. «Wir haben alles gemacht, was verlangt wurde, und kamen sehr gut durch die erste Welle», resümiert Nicolas Härtsch. Wenn die Fallzahlen wieder nach oben schnellten, konnten die inzwischen bewährten Systeme hochgefahren werden. Als es dann doch hiess, Schutzmasken wären ein sinnvoller Schutz, wurden diese im Betrieb diszipliniert getragen, «die Leute verstehen, warum eine Maskenpflicht angeordnet wurde und sie tragen sie auch.» Im ersten Jahr musste Varioprint nie grössere Personalausfälle beklagen, «Ansteckungen im Betrieb konnten wir komplett verhindern, die kamen immer von aussen.»

  

Die Nachfrage war weg

Was die produktiven Kapazitäten anbelangt, konnte Varioprint 2020 grundsätzlich gut arbeiten. Auftragsseitig sah es freilich anders aus. «Wir erlebten einen Nachfrageabriss. Plötzlich gab es für bestimmte Produkte gar keine Nachfrage mehr», sagt Nicolas Härtsch. Insbesondere im Bereich Medizintechnik habe es keine Bestellungen mehr gegeben, «weil elektive Eingriffe verschoben wurden, brauchte es auch keine Leiterplatten für Herzschrittmacher oder Neurostimmulatoren.» Auch im Automobilbereich verzeichnete Varioprint einen starken Rückgang, zudem wurde auch im Segment Industrietechnik das eine oder andere Digitalisierungsprojekt oder Automatisierungsprojekt nicht umgesetzt. «Drei von fünf Geschäftsbereichen sind also deutlich schwächer ausgefallen», erklärt Härtsch. Medizintechnik und Industrietechnik machen in einem normalen Jahr je knapp einen Viertel des Umsatzvolumens aus. Was 2020 stabil lief, war der Kommunikationssektor, ebenso Produkte für Navigationsanwendungen, GPS und Aerospace.

Bestellt – und verschoben

Einige Kunden, die 2020 nichts mehr bestellt hatten, schickten 2021 gleich mal eine grosse Bestellung, nach einem schwachen ersten Quartal registrierte Varioprint in den Folgequartalen 2021 einen «super Auftragseingang». Bereits gegen den Herbst hin herrschte dann aber in den Worten des CEO wieder «etwas Flaute». Der Auftragsbestand wuchs zwar noch weiter an, aber gleichzeitig wurden viele getätigte Bestellungen verschoben: «Unsere Kunden hatten wohl Aufträge im Haus, aber ihnen fehlten bestimmte Bauteile, und dann wird die Leiterplatte leider erst später benötigt», erklärt Nicolas Härtsch.

«Plötzlich gab es für bestimmte Produkte gar keine Nachfrage mehr.»

«Eine Leiterplatte ist kein Lagerartikel, die produziert man nie auf Vorrat, sondern immer just in time», erläutert der Varioprint-CEO. «Das hat auch mit Normen zu tun, die Lötbarkeit ist limitiert, die Leiterplatte lässt sich nicht unbestimmt lange weiterverarbeiten, und jeder Kunde will natürlich Leiterplatten mit der maximalen Haltbarkeit.» Die Folge: Auch Varioprint musste die Produktion drosseln. Eine fertige Leiterplatte geht zuerst zu einem Bestücker – wenn aber ein vorgesehenes Teil fehlt, wird sie nicht bestückt. Der Chipmangel war selbstredend die Hauptursache, dass es hier zu Unterbrüchen kam, manchmal fehlten aber triviale Sachen wie eine Steckerverbindung, ein Lämpchen oder ein Ventilator. Dann kann nicht einfach ein anderes Produkt verwendet werden, die Kunden geben genau vor, welches Teil von welchem Lieferanten verwendet werden muss. Vor allem die zertifizierten Prozesse in der Medizinaltechnik oder im Automobilbereich sind da sehr restriktiv, weil es sich oft um klar spezifizierte Teile handelt. Aktuell, im ersten Quartal 2022, werden die verschobenen Bestellungen bei Varioprint wieder abgerufen. «Wir müssten jetzt alles nachholen, bloss können wir das nicht im vollen Umfang», sagt Härtsch, «wir haben physikalische Grenzen bei der Kapazität, und mehr als unter der Woche und an den Wochenenden kann auch unser Personal nicht arbeiten.» Es sei eine total verrückte Situation, meint der Chef des Leiterplattenherstellers, und es sei noch nicht absehbar, wann sich das beruhige. Der Aufschwung sei aber sehr erfreulich.

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Lieferfähig bleiben

Das Jahr 2021 fing freundlich an, es setzte eine Erholung ein. «Wir haben dann bewusst mehr Basismaterialien eingekauft, auf eigenes Risiko, damit wir sicher lieferfähig sind», sagt Nicolas Härtsch, «unsere Kunden sollten nie sagen müssen ‹Varioprint war ein Hinderungsgrund›.» Deshalb hat das Unternehmen mehr bestellt und zum Teil auch mehr Material an Lager genommen. «Wenn wir gleich bestellt hätten wie immer, wäre es für uns sehr viel schwieriger geworden.»

«Wir wollten Stabilität in der Belegschaft.»

Der Poker ist vorerst aufgegangen, «Im Moment werden wir noch etwas belohnt», sagt Härtsch. Die Preissteigerungen für die Rohstoffe kämen wellenartig, mal sind es 5 Prozent, dann wieder 15. «Bei gewissen Produkten haben wir sogar 100 Prozent Preiserhöhung. Es heisst dann einfach: ‹Willst Du es?› Das kostet es.» Lieferanten mit starker Marktposition würden die Situation teilweise ausnutzen. Manchmal kommt auch eine unglückliche Fügung dazu, wie Nicolas Härtsch erzählt: Für ein bestimmtes Vorprodukt kämen drei Hersteller in Frage, einer unterbricht aber die Produktion für eine Wartung seiner Anlagen, dann setzt ein Brand den zweiten ausser Gefecht, weshalb alle Abnehmer beim dritten Hersteller zusammenhamstern, was noch zu holen ist.

Kostensteigerung weiter gereicht

Dass Lieferketten nicht annähernd so funktionieren wie noch vor zwei Jahren spürt auch das Unternehmen in Heiden. Für die Herstellung von Leiterplatten braucht Varioprint viel harzbasierte Produkte und Glasfasern sowie Metalle wie Kupfer. Dazu kommt Lack in Form von Folien oder Sprühlack, um belichtungsfähige Oberflächen zu machen. «Grundsätzlich hatten wir eine gute Lieferperformance, weil wir eine wesentliche Lieferantenbasis in Europa haben», sagt Nicolas Härtsch – die Lieferanten hätten aber oft ihrerseits eine Verbindung zu Asien. Die Varioprint AG bekam ihre Rohstoffe, wurde jedoch mit erheblichen Kostensteigerungen konfrontiert. Das Unternehmen konnte diese aber zum überwiegenden Teil weitergeben. «Die Verteuerung der Supply-Chain erfährt im Moment jede Industrie. Wir können deshalb auf ein Grundverständnis unserer Kunden zählen, dass es eine Verteuerung gibt», erklärt Nicolas Härtsch. «Wir haben bei fast allen Kunden moderate Preiserhöhungen durchgebracht. Ich hoffe das reicht, um die Marge zu halten – sonst müssen wir nochmals nachjustieren.»

  

Stabilität bei der Belegschaft

Das Ergebnis 2020 war alles andere als gut, was auch auf Währungsverwerfungen zurückgeführt werden könne: «Wir haben einen sehr hohen Export-Anteil im Euroraum und im Dollar, und beide Währungen haben sich klar negativ entwickelt.» 2021 wird Varioprint auch nicht das erreicht haben, was sich das Unternehmen eigentlich vorgenommen habe, «aber wir sollten mit einem blauen Auge davonkommen», glaubt Härtsch. «Was uns wichtig war: Wir wollten Stabilität in der Belegschaft. Dafür haben wir gewisse Bremsspuren in der Erfolgsrechnung in Kauf genommen.» Im ersten Coronajahr gab es öfters Kurzarbeit, 2021 nur noch im ersten Monat des Jahres. Es sei nie ein Thema gewesen, im negativen Wirtschaftszyklus den Personalbestand runterzufahren, sagt Nicolas Härtsch. Gutes Personal sei schwierig zu finden, zumal die Herstellung von Leiterplatten ein Beruf sei, den man nicht regulär erlernen könne. Deshalb war klar, dass man die guten Leute halten wolle. «Ich war nie nervös, ich wusste auch aufgrund des hohen, aber verschobenen Auftragsbestand, dass das Geschäft wieder anziehen wird. Ich bin guten Mutes, dass wir 2022 dort anknüpfen können, wo wir in guten Zeiten aufgehört haben.» Frei nach dem Motto «jede Krise birgt auch Chancen» hat Varioprint die Zeit für interne Weiterbildungen der Mitarbeiter genutzt und die Leute mit anderen Disziplinen innerhalb der Produktion vertraut gemacht, sie konnten quasi in einer anderen Mannschaftsaufstellung spielen. Was gemäss Nicolas Härtsch gut angekommen ist: «Die Leute schätzten es, dass sie nun zusätzliche Perspektiven im Betrieb haben.»

Abläufe optimiert

Der CEO liess seine Leute aber nicht nur auf anderen Positionen spielen, er wollte auch die einstudierten Spielzüge anpassen: «Wir sind derzeit bestrebt, Abläufe zu optimieren und gewisse Produkte, die wir viel machen, schlanker, effizienter und schneller herzustellen. Neben dem Ziel, weniger Ausschuss zu produzieren, wollen wir vor allem die Durchlaufzeit für wichtige Produkte kürzen.» Ziel war und ist es, die Dauer vom Zeitpunkt der Bestellung bis zur Auslieferung einer für den Kunden konfektionierte Leiterplatte von vielleicht 25 Tagen auf noch 18 Tage zu drücken. Durchlaufzeiten waren ein Punkt, der in Kundenumfragen öfters thematisiert wurde. «Also sagten wir uns: Wir nutzen die Gelegenheit und überlegen, wie wir uns verbessern können», sagt Härtsch. Das ist gleichzeitig eine spannende Herausforderung für die Belegschaft, weil sich die Leute mit ihren Ideen einbringen können. Der Start dieser Initiativen « war auch ein Signal an unsere Leute: Wir glauben an Euch, und wir glauben an den Erfolg. Das hat in der Krise geholfen, eine gute Grundstimmung zu behalten.» Das sei auch nötig, weil zwei Jahre Pandemie bei allen an der Psyche nagten. Nicolas Härtsch hält dem entgegen: «Wir haben keine Angst, dass es uns in Zukunft nicht mehr braucht.»

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