Schlupfhuus statt Feierabend
Den 9. Februar 2018 wird Emanuele (Name geändert) nicht so schnell vergessen. An jenem Freitagnachmittag wird der 16-jährige Polymech-Lehrling von seinem Lehrmeister aus dem Betrieb direkt nach St.Gallen gefahren und ins Schlupfhuus gebracht. Hier ist er vorerst an einem sicheren Ort. Und endlich kann er durchatmen und seine Seele kann zur Ruhe kommen. Doch wie ist es so weit gekommen?
Die meisten Kinder und Jugendlichen kommen als sogenannte Notfälle ins Schlupfhuus. Es geht dabei oft um Krisensituationen im Elternhaus, die sich immer mehr zuspitzen und schliesslich eskalieren. Emanuele lebte seit gut sechs Jahren bei seinem Vater, nachdem sich seine Eltern getrennt hatten. Sein Vater hat wieder eine Partnerin gefunden, welche noch ein kleines Kind mit in die Familie brachte. Doch von Familienleben konnte keine Rede sein. Emanuele wurde von seinem Vater immer mehr drangsaliert, fühlte sich vernachlässigt und im Stich gelassen.
Ausgegrenzt und verängstigt
Jahrelang litt er unter massiver psychischer Gewalt seines Vaters. «Während mein Vater, die Partnerin und das Baby miteinander das Abendessen genossen, musste ich jeweils alleine in meinem Zimmer warten», erklärt Emanuele. Manchmal getraute er sich gar nicht mehr nach dem Arbeiten in die Wohnung zu gehen, weil er sich vor den abschätzigen Bemerkungen und dem Ärger seines Vaters fürchtete. «Ich wartete minutenlang vor der Haustüre, bis ich mich endlich überwinden konnte, reinzugehen», erzählt er.
Sein Lehrmeister bemerkte, dass es Emanuele emotional nicht gut ging, und schaltete den betriebseigenen Sozialdienst ein. Als die Sozialarbeiterin mit Emanuele ein offizielles Gespräch führte, handelte sie sofort und schlug Lehrling, Geschäftsleiter und Lehrmeister vor, den Jugendlichen ins Schlupfhuus zu bringen. Emanuele war einverstanden und wurde noch am gleichen Tag vom Lehrmeister persönlich ins Schlupfhuus gebracht. «Das Unternehmen hat sehr achtsam und vorbildlich gehandelt. Im Zentrum stand dabei das Wohl des Jugendlichen», so Roger Scherrer, Leiter Schlupfhuus und Mitglied der Geschäftsleitung des Kinderschutzzentrums St.Gallen.
Schlupfhuus ist zentral für Kindesschutz
«Es fühlt sich an, als wäre eine grosse Last von mir genommen worden», erzählt Emanuele, nachdem er gut zwei Wochen im Schlupfhuus verbracht hat. Inzwischen ist viel passiert. Die KESB wurde eingeschaltet und ist in Kontakt mit den Eltern von Emanuele. Es wird nun gemeinsam nach tragfähigen Lösungen gesucht, welche das Zusammenleben von Vater, Sohn und Familie wieder ermöglichen. «Der Fokus wird darauf gelegt, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern zu stabilisieren und zu stärken», erläutert Roger Scherrer, Leiter Schlupfhuus. Die Haltung, die mit der «Systemischen Interaktionsberatung» (SIT) vermittelt wird, spielt dabei eine wichtige Rolle. Es geht darum, die Eltern in ihrer Rolle zu stärken und zu unterstützen, damit sie mit ihren Kindern wieder in einer förderlichen Beziehung zueinander stehen. Ob Emanuele aber wieder zurück zu seinem Vater geht, ist noch unklar. «Mein Vater hat sich die ganze Zeit nicht bei mir gemeldet, seit ich im Schlupfhuus bin», sagt er. Die Enttäuschung ist dem Jungen ins Gesicht geschrieben.
Dem Schlupfhuus kommt im institutionellen Kindesschutz eine zentrale Rolle zu. Sei es für ein Kind, das Opfer einer Straftat wird und einen besonderen Schutzort benötigt, im Rahmen eines Kindesschutzverfahrens eine Übergangslösung gefragt ist, oder weil ein Kind zwischen den Fronten häuslicher Gewalt steht und einen neutralen Ort benötigt. «Das Schlupfhuus deckt verschiedene Angebote ab und orientiert sich am Kindeswohl. Es zieht dazu die Personen aus dem Umfeld in die Lösungssuche mit ein. Aus Perspektive der KESB ist das Schlupfhuus zudem ein wichtiger Teil einer gesamtheitlichen Not- und Grundversorgung für den Fall des Eintritts akuter Kindswohlgefährdungen», erklärt Glen Aggeler, Präsident KESB Toggenburg und Vorsitzender der KESB-Präsidien des Kantons St.Gallen. Betroffene Kinder und Jugendliche, Eltern, Fach- und Bezugspersonen können sich in Krisensituationen jederzeit und direkt ans Schlupfhuus wenden, wenn eine vorübergehende Notplatzierung benötigt wird. Dies gilt auch für Babys und Kleinkinder. «Im Jahr 2017 hatten wir insgesamt 16 Säuglinge und Kleinkinder bis 5 Jahre bei uns aufgenommen», so Roger Scherrer.
Unterstützung durch Fachleute
Qualifizierte Fachleute aus dem Kinder- und Jugendschutz arbeiten zum Teil schon seit vielen Jahren im Schlupfhuus und begleiten die Betroffenen. Dazu gehört auch die Unterstützung in der aktuellen Schul- und Ausbildungssituation. Oder der Aufbau von Selbstvertrauen und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit bei besonderen Erlebnispädagogischen Aktivitäten. Dann heisst es zum Beispiel raus in den Schnee zu gehen, wo Sozialpädagoge Andreas Alfanz mit den Jugendlichen gemeinsam ein Iglu baut – und die Jugendlichen darin eine unvergessliche Nacht verbringen. Oder man geht zusammen in die Kletterhalle, wo Kinder und Jugendliche die Themen Selbstvertrauen, Verantwortung, Vertrauen und Stärke eindrücklich erfahren können.
Emanuele hat einen sehr positiven Eindruck vom Schlupfhuus bekommen. Es ist wie eine Auszeit für ihn, während der sein Leben wieder neu geordnet werden kann. Er ist optimistisch: «Ich glaube daran, dass wir zusammen mit der KESB eine gute Lösung finden, die mir für meinen nächsten Lebensabschnitt hilft», teilt er mit. Sein grösster Wunsch sei es, wieder mit einem Lächeln und einem Gefühl von Leichtigkeit durch den Alltag gehen zu können – ohne die Angst vor dem nach Hause gehen als ständigen Begleiter an der Seite zu haben.