Ostschweiz

Entmietet und verdrängt

Entmietet und verdrängt
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Immer mehr Menschen werden in der Schweiz «entmietet»; sie verlieren ihre Wohnung, weil Immobilienbesitzer ihnen kündigen, um nach einer Renovation der Liegenschaft den Profit zu steigern. Forscher des Instituts für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) der OST – Ostschweizer Fachhochschule haben die Lebensrealitäten von verdrängten Mietern untersucht.

Text: Michael Breu

«Wer aus einer Wohnung mehr Rendite herausholen will, hat ein ‹Problem› – er muss sein Objekt von den Menschen befreien. Das hiess traditionell: Man ‹entmietete› das Wohnhaus – heute werden Menschen ‹entmietet›», bringt es Christian Reutlinger im Interview mit dem Magazin «Mieten + Wohnen» auf den Punkt.

Christian Reutlinger, bis August 2023 Professor am Institut für Soziale Arbeit und Räume an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, heute an der Fachhochschule Nordwestschweiz, hat zusammen mit Miriam Meuth, inzwischen Dozentin an der Hochschule Luzern, sowie weiteren Kollegen in einem Nationalfonds-Projekt die Lebensrealitäten verdrängter Mieter untersucht. Im Mittelpunkt standen die Perspektiven Betroffener und deren Umgang mit dem Wohnungsverlust. Entstanden ist ein eindrückliches Buch: «Entmietet und verdrängt. Wie Mieter:innen ihren Wohnungsverlust erleben».

«Der offizielle Kündigungsmoment, in dem Mieter schwarz auf weiss erfahren, dass sie ausziehen müssen, ist einschneidend. Viele erleben diesen Moment als einen Akt von Gewalt», schreibt OST-Professorin Nicola Hilti, die ebenfalls am Forschungs- und Buchprojekt mitwirkte. Die Kündigung werde dabei nicht nur als Verdrängung aus der Wohnung empfunden, sondern in vielen Fällen auch als Verdrängung aus dem bisherigen Quartier.

Die Forscher beobachten eine Zunahme dieser «Gentrifizierung»: In den letzten Jahren hätten Massenkündigungen von Mietverhältnissen innerhalb ganzer Siedlungen zugenommen. «Immobilienbesitzer wollen Gebäude bauen oder bestehende umfassend sanieren, um anschliessend die Miete zu erhöhen», so die Forscher. Die massive Praxis von «Leerkündigungen» veranschauliche dies deutlich.

Nicola Hilti zitiert aus einem Fallbeispiel: «Es war weniger die Kündigung an sich, sondern die Art und Weise, wie man mit der ‹Ware Mieter› umgeht». Und Miriam Meuth ergänzt: «Besonders bei Siedlungen, die renditeorientierten institutionellen Investoren gehörten, fühlten sich die gekündigten Mieter unwürdig behandelt.»

Die qualitative Studie liefert vielschichtige Einblicke in die Lebensrealität verdrängter Mieter. Im Mittelpunkt stehen die Perspektiven Betroffener und deren Umgang mit dem Wohnungsverlust. Die Studie und das Fachbuch liefern wichtige Hinweise für wohnungspolitische und sozialarbeiterische Initiativen.

Miriam Meuth, Christian Reutlinger (Hg.): «Entmietet und verdrängt. Wie Mieter:innen ihren Wohnungsverlust erleben», transcript-Verlag, Bielefeld, 2023. ISBN: 978-3-8376-6723-3.

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