Das Ende des Panoptikums?

Text: Louis Grosjean (Bild), Partner altrimo
Der Boss hat ein schickes, geräumiges Einzelbüro mit undurchsichtigen Wänden. Er herrscht über ein ganzes Stockwerk. Seine Mitarbeiter schuften im Grossraumbüro. Ein freundliches, aber bestimmtes «Guten Morgen miteinander» vom Boss läutet den Tag jeweils ein. Drei, vier Mal am Tag stapft er durch die Gänge und begibt sich zu einer Sitzung. Am Morgen und am Abend wirft er einen Blick in die Runde und stellt fest, wer schon bzw. noch da ist.
Das perfekte Überwachungssystem
Diese Szene ist eine Abwandlung des Panoptikums. Darf ich das Original vorstellen? Das Panoptikum ist das perfekte Gefängnis, dessen Plan vom Philosoph des frühen 19. Jahrhunderts Jeremy Bentham gezeichnet wurde. Es ist ein Gebäude in der Form eines Kreises. Die Einzelzellen der Insassen befinden sich am äusseren Rand des Kreises. Gegen innen sind die Zellen durchsichtig. In der Mitte steht ein Turm mit spaltbreiten Fenstern. Der Aufseher steht in diesem Turm und kann die Insassen durch die Fenster beobachten. Umgekehrt können die Insassen ihn nicht sehen. Sie können nicht einmal herausfinden, ob er im Turm ist. Sie müssen also mit der Möglichkeit rechnen, dass der Aufseher sie jederzeit beobachten kann. Nur schon durch diese potenzielle Überwachung werden die Insassen konstant zu einem regelkonformen Verhalten gezwungen.
Was haben das Panoptikum und unsere eingangs beschriebene Büroszene gemeinsam? Ich gehe nicht so weit und behaupte, dass Grossraumbüros Gefängnisse sind. Eins ist jedoch klar: Sie dienen einem System der ständigen Kontrolle. Die Überwachung erfolgt einerseits horizontal unter Arbeitskollegen. Sie wirkt andererseits vertikal, weil der Boss jederzeit auftauchen und feststellen kann, wer arbeitet und woran.
Schleichende Entmenschlichung
Der französische Philosoph des 20. Jahrhunderts Michel Foucault hat solche Kontrollstrukturen in der Menschheitsgeschichte erforscht. Er kommt zum Schluss, dass der Mensch immer ausgeklügeltere Strukturen der Überwachung schafft. Solche Strukturen ziehen sich nach Foucault durch das ganze moderne Leben: von der Schule mit ihren reihenweise geordneten Bänken über das Militär mit dem Kasernenleben, weiter über die Arbeitswelt mit ihrer Zeiterfassung und eben über die machtorientierten Bürostrukturen bis hin zu den Altersheimen. Foucault kritisiert diese Strukturen, weil sie den Menschen durch Effizienz und Kontrolle entmenschlichen.
Chancen in der Post-Covid-Welt
Aktuell erleben wir etwas Seltenes: Die eingangs beschriebene Grossraumbüro-Szene ist seit Ausbruch der Covid-19 Pandemie verschwunden. Mindestens zum Teil arbeiten die Leute im Dienstleistungssektor im Home Office. Für einmal in der Geschichte der Menschheit hat sich das Rad der immer verfeinerten Überwachung zurückgedreht. Gibt es da nicht eine Chance, wieder mehr Menschlichkeit ins Arbeitsleben zu bringen?Die Antwort ist: ja, unbedingt. Home Office bringt Freiheit – zumindest, wenn man von tobenden Kindern in den eigenen vier Welten abstrahiert. Und Home Office schafft Kontrolle ab – vorausgesetzt, das Panoptikum kommt nicht doch durch die Hintertür, beispielsweise mit einer jederzeitigen online-/offline Anzeige. Beides, nämlich Freiheit und Abschaffung der Kontrolle, ist mir sympathisch. Beides ist in der Perspektive Foucaults menschengerecht.
Gleichzeitig merken wir, was uns in der Home-Office-Welt entgeht: zum Beispiel der soziale Kontakt in der Pause, oder die schnelle unkomplizierte Rücksprache zwischen Tür und Angel mit dem Arbeitskollegen.
Eine gut koordinierte Abwechslung von Büropräsenz und Home Office dürfte in der Post-Covid-Welt für Mensch und Arbeit zugleich förderlich sein. Diese dosierte Abwechslung zu koordinieren, ist Aufgabe des Post-Covid-Leaders. Die altehrwürdige Kontrolle der eigenen Mitarbeiter-Herde durch den Boss zu Randzeiten gehört jedoch definitiv in die Geschichtsbücher der Arbeitswelt.