Bergson und der unternehmerische Lebensdrang

Text: Louis Grosjean
Bild: Partner altrimo
Es war einmal eine Zeit, als sich die Menschen anschickten, ihre Welt vollständig durch die Wissenschaft zu erklären. Das war im XIX. Jahrhundert. Dieses Streben ist nicht verschwunden, doch die Wissenschaftler sind bescheidener geworden; den Vollständigkeitsanspruch stellt kaum einer mehr.
In unserer Zeit gibt es jedoch immer noch obere Führungskräfte, die ein Unternehmen ausschliesslich wie ein Räderwerk betrachten. Gibt man einen Schubs hier, kommt dort etwas raus. Sind die Prozesse fein geölt und das Verhältnis zwischen Input und Output vorteilhaft, ist das Unternehmen auf gutem Kurs. Und mit diesem Diskurs (gute Prozesse, gute Zahlen) versuchen sie, ihre Mitarbeiter zu motivieren – erfolglos. Warum?
Bergsons Elan vital
Einer, der recht Mühe mit der Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeit hatte, war der französische Philosoph Henri Bergson (1859-1941). Seine Philosophie – die auch «Lebensphilosophie» genannt wird – hilft zu verstehen, warum «gute Prozesse, gute Zahlen» alleine nutzlos sind.
Bergsons zentraler Begriff heisst «élan vital», auf Deutsch manchmal mit «Lebensdrang» übersetzt. Bergson setzt diesen Lebensdrang der «anorganischen Materie» gegenüber. Die anorganische Materie (wie Metall oder Stein) ist leblos und daher träge. Hingegen unterliegt das, was mit Leben gefüllt ist, einem Trieb bzw. einem Lebensdrang. Dieser drückt sich in ununterbrochenem Erschaffen aus. Biologisch-historisch gesehen manifestiert sich der Lebensdrang letztlich in der schöpferischen Entwicklung allen Lebens. Dieser Lebensdrang lässt sich nach Bergson nicht über das klassische Ursache-Wirkung-Schema aus der Wissenschaft erklären. Er erschafft Neues und erneuert sich ständig. Er erscheint oft unverständlich, ab und zu disruptiv und immer kreativ. Manchmal, wie bei Insekten, wird dieser Lebensdrang durch den Instinkt gesteuert; manchmal, wie es beim Menschen vorkommt, durch den Intellekt.
Anorganische Materie und Motivation?
Zurück zum Unternehmen. Prozesse und Finanzen sind, wie das Räderwerk, anorganische Materie nach dem Verständnis Bergsons. Sie sind kalt, träge und leblos.
Die Menschen hingegen, die es zu motivieren gilt, sind Lebewesen. Immer noch nach Bergson sind sie gefüllt mit Lebensdrang (auch wenn der schläfrige Arbeitskollege am Montag Morgen diesen nicht gerade versprüht). Auf Lebensdrang mit anorganischer Materie einzuwirken, ist wie mit dem Amboss auf den Hammer zu schlagen. Es ist verkehrt. Da wird nicht viel erzeugt.
Die Quelle des Leaderships
Mit Hilfe Bergsons möchte ich dazu eine Hypothese aufstellen. Wer als Führungskraft keinen Lebensdrang versprüht, wird nicht als Leader wahrgenommen; Leben, Energie, Präsenz, Nahbarkeit und Erneuerung sind Voraussetzungen für Leadership.
Sind demnach Wissenschaft, Räderwerke, Prozesse und Zahlen wegzuwerfen? Natürlich nicht. Sie sind hilfreiche Vereinfachungen des unternehmerischen Lebens. Sie machen Vorgänge messbar. Sie veranschaulichen diese. Sie sind jedoch eben nur Hilfsmittel und nicht der Stoff, aus dem Leader ihre unternehmerische Schaffenskraft schöpfen. Dieser heisst «Lebensdrang».
Diesen Lebensdrang zu spüren, mit Mass und gezielt einzusetzen und dann zur Entfachung des Feuers in anderen Menschen zu nutzen, ist eine Quelle des Leaderships. Ich wünsche allen Leadern, dank erholsamen Ferien etwas Lebensdrang aufgetankt zu haben.