Amputierte Leader
Text: Louis Grosjean, Partner altrimo
Leader sind Zehnkämpfer. Sie müssen führen, inspirieren, Energieimpulse geben, Vorbild sein, Menschen gerne haben, umsetzen, und vieles mehr.
Man kann dies mit drei Körperteilen zusammenfassen:
- Den Kopf, für analytisch-rationale Denkfähigkeiten;
- Das Herz, für emotionale Kompetenz und Gefühle;
- Die Hand, für das Handeln und die Umsetzungsstärke.
Was machen wir nun mit einer Führungskraft, der eine, oder sogar zwei dieser Körperteile fehlt?
Pestalozzis ungewollter Beitrag zur Management-Lehre
Johann Heinrich Pestalozzi, ein vor ca. 200 Jahren verstorbener Pädagoge, hat diese Körperteile-Trilogie mit folgendem Spruch geprägt: «Lernen mit Kopf, Herz und Hand».
Diese Trilogie war also zunächst eine Lernmethodik. Unsere Sinne sollen möglichst ganzheitlich angeregt werden, wenn es um Lernen geht. Was aber soll das Lernen mit dem Leadership gemeinsam haben? Warum wurde Pestalozzis Trilogie in der Management-Lehre einfach übernommen?
Die Antwort ist aus meiner Sicht einfach: Weil diese Trilogie einleuchtend ist. Weil das Lernen eine gewisse Offenheit voraussetzt – genau wie die Bereitschaft, einem Leader zu folgen. Nochmals zur Verdeutlichung: Ich muss das Denken, das Fühlen und das Handeln kombinieren, wenn ich lernen will. Und auch wenn mein Verhalten beeinflusst werden soll, muss ich bereit sein zu denken, zu fühlen und zu handeln. Also muss ein Leader an diese drei Dimensionen appellieren.
Amputierte-Leader-Beispiele
Das Problem in unserer Welt ist, dass manche Führungskräfte nicht mit allen drei Dimensionen in genügendem Ausmass ausgestattet wurden. Wir haben den Oberanalytiker, der alle Entscheide durch sein rationales Denken filtern muss und dadurch viel Zeit sowie Entscheidungsenergie verliert.
Wir haben den hypersensiblen Gefühlsmensch, der alles auf die Beziehungsebene reduziert. Und wir haben schliesslich den Bulldozer, der alles umsetzt, ohne auf die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen Rücksicht zu nehmen oder die Konsequenzen seines Handelns durchzudenken.
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Reflexion …
Die grösste Schwierigkeit besteht zunächst darin, einer Führungskraft beizubringen, dass sie «amputiert» ist, ihr also eine oder zwei dieser drei Körperteile fehlt. Aus Angst vor Konsequenzen werden es die Mitarbeitenden nur selten explizit sagen.
Der beste Weg ist, nicht ganz überraschend, die Selbstreflexion. Ein Leader muss Situationen reflektieren und sich fragen, ob er diese mit dem ganzen Körper durchgespielt hat. Er muss sich aber auch mit Leuten umgeben, die in der Lage sind, ihm ehrliches Feedback zu geben. Dazu muss er einen Rahmen schaffen und explizit um Rückmeldungen bitten. Gehen mehrere dieser Rückmeldungen in die gleiche negative Richtung, muss wohl ein Körperteil zu wenig entwickelt sein oder gänzlich fehlen.
… und Kombination
Der zweite Schritt besteht in der Reaktion auf einen solchen Befund. Der naheliegende Schluss wäre: Ein Leader muss Kopf, Herz und Hand haben; fehlt ihm eins davon, muss er den Sessel räumen.
Das muss nicht sein. Jeder von uns hat seine Schwächen. Die Kunst besteht, diese anzuerkennen und mit den Stärken Anderer zu kompensieren. Dazu braucht es eine gewisse Grösse. Auf die Zusammensetzung eines Führungsgremiums kommt es an. Insbesondere der Leader muss dabei eine «Kompetenzen-Kompensation» im Team finden.
Und wenn der Leader doch zu fest amputiert ist, muss seine Rolle angepasst werden. Um auf die Extrembeispiele zurückzukommen: Der Oberanalytiker gibt vielleicht einen guten Verwaltungsrat. Der Hypersensible hat vielleicht eine Rolle als Pulsmesser im Betrieb. Und der Bulldozer könnte ein umsetzungsstarker Projektleiter werden.
Leadership ist vielleicht mehr Kombination als Perfektion.